Handeln, bevor es zu spät ist

Im Interview spricht Patrik-Ludwig Hantzsch von Creditreform darüber, warum der Kanzler und die Bundesregierung für die Wirtschaftswende zügig und kraftvoll handeln müssen, und er ordnet die nach wie vor hohe Zahl an Unternehmensinsolvenzen ein.
Inhaltsverzeichnis
1. Verflogene Aufbruchstimmung
2. Großer Handlungsdruck bei der Wirtschaftswende
3. Weiterer Anstieg der Unternehmensinsolvenzen
4. Brandbeschleuniger auf bestehende Schwachstellen
5. Marktaustritt innovativer und forschungsintensiver Unternehmen
6. Eine neue Qualität der Krise
7. Handlungsempfehlungen für Politik, Unternehmen und Gründer
Herr Hantzsch, wie sieht Ihre Bilanz nach rund 100 Tagen schwarz-roter Koalition aus?
Hantzsch: Ein Großteil der Aufbruchstimmung ist verflogen. Die Bundesregierung hat zwar viele Schwachstellen zutreffend identifiziert. Aber es mangelt an Entschlossenheit, die Herausforderungen anzugehen. Die Wirtschaft vermisst klare Signale für unbequeme, aber notwendige Strukturreformen und einen spürbaren Bürokratieabbau. Kleine und mittelgroße Unternehmen vermissen eine klare Handschrift der neuen Regierung zugunsten des Mittelstands.
Was würden Sie als Wirtschaftsforscher der Bundesregierung raten?
Hantzsch: Angesichts der Wirtschaftsdaten müssen Friedrich Merz und sein Team zügig und kraftvoll nachlegen, sonst wird die Wirtschaftswende nicht gelingen. Der Handlungsdruck ist groß, die deutsche Wirtschaft steckt trotz einiger positiver Signale in der Rezession fest. Im zweiten Quartal 2025 hat sich das Bruttoinlandsprodukt um 0,3 Prozent verringerte. Die Industrieproduktion ist sogar um 2,8 Prozent geschrumpft. Im August hat die Zahl der Arbeitslosen die Marke von drei Millionen überschritten – das erste Mal seit zehn Jahren. Die schwache Nachfrage, steigende Kosten und anhaltende Unsicherheit bringen immer mehr Unternehmen in eine finanzielle Schieflage. Im ersten Halbjahr 2025 ist die Zahl der Unternehmensinsolvenzen nach unseren Berechnungen als Creditreform auf fast 12.000 gestiegen – ebenfalls ein Zehnjahreshoch. Und Besserung ist leider nicht in Sicht, ganz im Gegenteil: Die Zahl der Insolvenzen wird in den nächsten Monaten weiter steigen.
Im Juli 2025 sind die Unternehmensinsolvenzen gegenüber dem Vormonat um fast 20 Prozent gestiegen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung auf Monatssicht und mit dem Blick auf den Anstieg der Insolvenzen, den es ja bereits seit zwei Jahren gibt und sich fortsetzen dürfte?
Hantzsch: Nachdem es in den Monaten zuvor in der Tat einen eher moderaten Zuwachs gegeben hat, wirkt große Anstieg im Juli wie ein Weckruf. Er ist jedoch weder Anlass zur Panik noch ein einmaliger Ausreißer. Vielmehr reiht er sich ein in ein Muster, das wir seit 2023 beobachten: eine anhaltende Erosion in Teilen der deutschen Unternehmenslandschaft. Wichtig ist und bleibt gleichwohl: Insolvenzen sind volkswirtschaftlich gesehen kein Makel, sondern Teil einer gesunden Marktwirtschaft. Doch wenn sie gehäuft in besonders innovations- und beschäftigungsintensiven Branchen auftreten, dann ist das ein Alarmsignal. Genau das sehen wir derzeit: Strukturelle Krisen, die sich über Jahre aufgebaut haben, brechen nun offen auf.
Was sind Ihrer Ansicht nach die Ursachen für diese Entwicklung?
Hantzsch: Die Versuchung ist groß, die derzeitige Lage allein mit aktuellen Belastungen wie Energiepreisen, Zöllen oder geopolitischen Risiken zu erklären. Diese Faktoren sind real, doch sie wirken wie ein Brandbeschleuniger auf bestehende Schwachstellen. Besonders kritisch ist die Lage im verarbeitenden Gewerbe: Fast 1.000 Insolvenzen im ersten Halbjahr 2025 bedeuten in diesem Bereich ein Plus von 17,5 Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr. Hinzu kommt: Energieintensive Branchen wie Papier-, Glas- oder Chemieproduktion leiden sogar dreifach – unter steigenden Kosten und zunehmendem internationalen Wettbewerbsdruck und einer sinkenden Nachfrage auf dem heimischen Markt. Fakt ist: Wer seine Energieeffizienz und Produktivität in den guten Jahren nicht erhöht hat, wird jetzt vom Markt bestraft.
Wer zu spät handelt, den bestraft der Markt. Aber ist es wirklich so einfach?
Hantzsch: Wenn dem so wäre, wäre der Handlungsdruck nicht so groß! Besonders besorgniserregend ist, dass derzeit nicht nur unprofitable Unternehmen aus dem Markt ausscheiden, sondern gerade auch innovative, forschungsintensive Unternehmen – und das zudem aus vielschichtigen Gründen. Unsere Daten zeigen, dass 2024 14.000 technologieorientierte Dienstleister aufgegeben haben oder aufgeben mussten – oft nicht, weil ihnen die Aufträge gefehlt haben, sondern weil sie diese wegen fehlender Fachkräfte nicht bearbeiten konnte. Der Fachkräftemangel in Digital- und MINT-Berufen wirkt wie ein unsichtbarer Bremsklotz für die Transformation. Wenn junge, zukunftsträchtige Unternehmen schließen, weil sie keine passenden Mitarbeiter finden, verlieren wir als Volkswirtschaft doppelt – an Innovationskraft und an internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Zugleich ist die Gründungsdynamik schwach. Zwar stieg die Zahl der Gründungen 2024 leicht auf 585.000, doch bei Vollerwerbsgründungen gab es ein Minus. Das Risiko: Weniger neue Unternehmen bedeuten weniger frische Ideen und Impulse für den Wettbewerb.
Das klingt nach einer neuen Qualität der Krise.
Hantzsch: Ja, frühere Insolvenzwellen – etwa nach der Finanzkrise 2009 – waren vor allem konjunkturell getrieben. Heute sehen wir eine Mischung aus zyklischen und strukturellen Faktoren: schwache Nachfrage, hohe Kosten, demografischer Wandel und disruptive Technologien. Diese Krise unterscheidet sich von vielen früheren: Sie betrifft gleichzeitig Nachfrage, Kostenstruktur und Innovationsbasis – das macht sie besonders gefährlich. Selbst eine konjunkturelle Erholung würde viele betroffene Unternehmen nicht mehr retten, weil ihre Geschäftsmodelle nicht mehr tragfähig sind.
Der Handlungsdruck ist groß, welche Handlungsempfehlungen geben Sie?
Hantzsch: Ich teile die Handlungsempfehlungen für drei Adressaten auf. Für die Politik: Bürokratieabbau, schnellere Genehmigungen, One-Stop-Shops für Gründungen und gezielte Förderprogramme für High-Tech-Start-ups sind überfällig. Für etablierte Unternehmen: Kontinuierliche Investitionen in Innovation, Digitalisierung und Effizienz sind Pflicht. Wer sich nicht regelmäßig neu erfindet, wird irgendwann vom Markt erfunden. Für Gründerinnen und Gründer: Mut zum Risiko, gerade in Zeiten des Wandels. Wer eine Nische erkennt, sollte nicht zögern. Der Fachkräftemangel kann auch eine Chance sein – für Unternehmen, die attraktiv für knappe Talente werden.
Der Interviewpartner
Patrik-Ludwig Hantzsch ist Leiter der Wirtschaftsforschung und Pressesprecher beim Verband der Vereine Creditreform in Neuss.
Das Thema war Bestandteil des Programms der Restrukturierung Nordwest 2025.
Weitere Information zur jährlichen Veranstaltung am Bremer Standort von Schultze & Braun gibt es hier: Restrukturierung-Nordwest