Die Zukunft des Insolvenzverfahrens

24. Mai 2024 Blog Insolvenzrecht Restrukturierung und Sanierung

Vor 25 Jahren ist die Insolvenzordnung in Kraft getreten. Grund genug, den Blick auf die weitere Entwicklung des Insolvenzrechts und die Zukunft des Insolvenzverfahrens zu richten. Im Interview spricht Georg Streit von Heuking zudem über die Nachhaltigkeit von Unternehmenssanierungen und seine Wünsche für die Zukunft des Insolvenzverfahrens.

 

Herr Streit, seit mehr als zehn Jahren des Rückgangs steigt die Zahl der Unternehmensinsolvenzen nun bereits seit mehreren Monaten wieder kontinuierlich an. Inwieweit sehen wir aus Ihrer Sicht derzeit eine Normalisierung des Insolvenzgeschehens?

Streit: Wir beobachten in der Tat seit dem Herbst 2022 einen deutlichen Anstieg der Zahl der Unternehmensinsolvenzen. Nach einem Hoch der Zahl der Unternehmensinsolvenzen im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise vor 15 Jahren war diese Zahl bis zum Jahr 2021 auf den niedrigsten Stand seit Einführung der Insolvenzordnung zurückgegangen. Im Jahr 2023 war ungefähr wieder das Niveau des Jahres 2019 erreicht beziehungsweise sogar leicht übertroffen, also des letzten Jahres vor dem Eingreifen der Sondereffekte insbesondere der Corona Pandemie. Die Sondereffekte der Corona Pandemie und der anschließenden Energiekrise mit einer Vielzahl staatlicher Hilfen und einer Aussetzung bzw. Einschränkung der Insolvenzgründe sind daher nun überwunden. Zugleich bleibt aber mit einer bloßen Rückkehr zu den im langjährigen Vergleich bereits niedrigen Zahlen der letzten Jahre vor der Pandemie eine „Insolvenzflut“ bisher aus. Wenn Sie von einer Normalisierung des Insolvenzgeschehens sprechen, ist dies daher richtig. In den nächsten Monaten und Jahren werden wir aufgrund der Effekte der Zinswende, der im internationalen Vergleich hohen Energiepreise und der schwachen Entwicklung der deutschen Wirtschaft mit einem weiteren Anstieg der Insolvenzzahlen zu rechnen haben.

 

Sowohl Regelinsolvenzen als auch Eigenverwaltungs- und Schutzschirmverfahren stehen für eine nachhaltige Unternehmenssanierung. Was sind nach Ihrer Erfahrung aus zahlreichen erfolgreichen Sanierungen die Erfolgsfaktoren für eine nachhaltige Unternehmenssanierung?

Streit: In der Tat eignen sich sowohl Regelinsolvenzverfahren als auch Eigenverwaltungs- und Schutzschirmverfahren zur Herbeiführung nachhaltiger Unternehmenssanierungen.  Entscheidende Erfolgsfaktoren für Sanierungen im Rahmen der Insolvenzordnung sind aus meiner Sicht eine frühzeitige, ehrliche und insbesondere selbstkritische Bestandsaufnahme durch das Management mit einer Offenheit für die Sanierung im Rahmen eines Insolvenzverfahrens, das ggf. auch möglichst frühzeitig eingeleitet werden sollte. Dann ist der Substanzverzehr meist noch gering und das Schlüsselpersonal noch vorhanden. Daneben ist eine offene Kommunikation mit den für eine Unternehmensfortführung wesentlichen Stakeholdern wichtig. Insbesondere die Kreditgeber dürfen nicht „überfallen“ werden. Gleiches gilt für Kunden, Lieferanten und Warenkreditversicherer sowie die Belegschaft. Neben der bilanziellen Restrukturierung ist wichtig, dass die operative Sanierung nicht zu kurz kommt und konsequent umgesetzt wird. Schmerzhafte Maßnahmen, wie etwa die Schließung dauerhaft nicht mehr ausgelasteter Betriebsstätten, sind oft nötig. Die Insolvenzordnung bietet für notwendige Anpassungen mit Kündigungsrechten, Wahlrechten und arbeitsrechtlichen Erleichterungen ausgezeichnete Möglichkeiten. Schließlich bedarf es für erfolgreiche Sanierungen eines zumindest im Kern - und ggf. nach Anpassungen - für die Zukunft tragfähigen Geschäftsmodells.

 

Gerade größere Sanierungen werden inzwischen im Rahmen von Eigenverwaltungen oder Schutzschirmverfahren angegangen. Droht dem Regelinsolvenzverfahren ein Bedeutungsverlust?

Streit: In der Tat sind bei größeren Unternehmensinsolvenzen seit Inkrafttreten des ESUG im Jahre 2012 immer stärker Eigenverwaltungs- und Schutzschirmverfahren sowie Insolvenzplansanierungen zu beobachten, auf die Schutzschirmverfahren als Variante des Eröffnungsverfahrens zielen. Dennoch gibt es weiterhin eine Vielzahl von Regelverfahren auch im Falle größerer Unternehmensinsolvenzen. Das Regelinsolvenzverfahren wird, auch jenseits von Kriminalinsolvenzen, wie etwa FlowTex und Wirecard, auch in Zukunft keinesfalls bedeutungslos werden. Ein gewisser Rückgang der Bedeutung wird sich aber fortsetzen. In Situationen, in denen das Management des schuldnerischen Unternehmens nicht mehr das Vertrauen der Stakeholder genießt, ist aber allemal das Regelverfahren die bessere Variante. Sanierung gelingt am besten –und häufig allein – im Konsens. Wenn entscheidende Stakeholder, wie etwa Kreditgeber, Lieferanten oder Kunden gegen eine Eigenverwaltung eingestellt sind, kann diese keinen optimalen Erfolg haben. Anders gewendet erfolgt eine Sanierung im Konsens aller Beteiligten am besten mittels Eigenverwaltung, häufig in Kombination mit einer Plansanierung.

 

Die EU-Kommission will die Harmonisierung der nationalen Insolvenzrechte vorantreiben. Wie schätzen Sie die Bedeutung von verwalterlosem und Pre-Pack-Verfahren ein?

Streit: Die Harmonisierung der nationalen Insolvenzrechte in der EU ist ein anzustrebendes Ziel. Ob Verfahren ohne Insolvenzverwalter tatsächlich eine gute Lösung für die Beteiligten darstellen, wage ich allerdings zu bezweifeln. Der Insolvenzverwalter beziehungsweise die Insolvenzverwalterin als neu hinzutretende, allein am Wohl der Gläubigergemeinschaft orientierte Persönlichkeit ist gerade bei kleinen Unternehmen, die keine geeigneten Strukturen für die Bewältigung einer Insolvenz aufweisen, nach meiner Einschätzung wichtig. Da das verwalterlose Verfahren allerdings vornehmlich kleine Fälle betreffen soll, wird sich die Praxis im Zusammenhang mit bedeutsamen Unternehmenssanierungen im Rahmen von Insolvenzen hierdurch nicht entscheidend verändern. Auch Pre-Pack-Verfahren sehe ich im Ergebnis eher kritisch. In anderen EU-Staaten hat man bereits Erfahrungen mit derartigen Verfahrensvarianten gesammelt. Demnach drohen zum Beispiel „Firesales“, also an maximaler Geschwindigkeit und nicht am Ziel der besten Verwertung im Gläubigerinteresse orientierte Veräußerungen.

 

Im Zuge der EU-Harmonisierung, aber auch national gibt es derzeit Bestrebungen, Insolvenz- und Sanierungsverfahren digitaler zu gestalten. Wie sehen Sie diesen Ansatz und sein Potential?

Streit: Die Digitalisierung von Insolvenz- und Sanierungsverfahren beurteile ich sehr positiv. Das Potential der Digitalisierung und insgesamt des technischen Fortschritts einschließlich des Einsatzes von künstlicher Intelligenz in der Justiz und insbesondere im Rahmen von Insolvenzverfahren ist enorm. Forderungsanmeldungen, die Führung der Insolvenztabelle und zum Beispiel die Durchführungen von Gläubigerversammlungen können mittels Digitalisierung kostengünstiger und effizienter für alle Beteiligten ausgestaltet werden.

 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Insolvenzverfahrens?

Streit: Wünschenswert sind technischer Fortschritt bei der Digitalisierung und eine Beschleunigung der Verfahren, sowie eine stärkere Konzentration der Insolvenzgerichte. Auch wenn wir seit dem Inkrafttreten der Insolvenzordnung 1999 und des ESUG 2012 weit vorangekommen sind, sollte sich auch die Wahrnehmung des Insolvenzverfahrens weiter verbessern, weg vom Stigma und hin zur Chance.


Der Interviewpartner

Prof. Dr. Georg Streit ist Leiter der Praxisgruppe Insolvenzrecht & Restrukturierung der Kanzlei Heuking. Zu seinen Tätigkeitsbereichen zählen Restrukturierung & Insolvenzrecht, Distressed M&A sowie Prozessführung im Rahmen von Haftungsklagen, Anfechtungsklagen, D&O-Versicherungsfällen oder Insolvency Litigation.