Estland: Herausforderungen bei der Umsetzung der EU-Richtlinie 2019/1023

Von Anto Kasak, Universität Tartu und Anwaltskanzlei Kasak & Lepikson

Einführung

Das erste estnische Sanierungsgesetz wurde am 4. Dezember 2008 erlassen und trat am 26. Dezember 2008 in Kraft. Das Sanierungsgesetz war eher abstrakt und gab Schuldnern weitreichende Möglichkeiten zur Sanierung des Unternehmens. Im Laufe der Zeit hat die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen den Rechten des Schuldners und dem Schutz der Gläubiger geschaffen. Aufgrund der vereinfachten Ausgestaltung des ersten Sanierungsgesetzes war die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/1023 für Estland eine große Herausforderung. Die Angleichung des estnischen Insolvenzgesetzes an die Richtlinie erforderte zahlreiche Änderungen. Das novellierte Sanierungsgesetz ist dann am 1. Juli 2022 in Kraft getreten.

Kernpunkte der Novellierung

Dieser Beitrag erhebt nicht den Anspruch, alle für die Umsetzung der Richtlinie erforderlichen Änderungen zu erläutern. Vielmehr thematisiert er die wichtigsten Änderungen mit ihren praktischen Auswirkungen. In der chronologischen Abfolge des Sanierungsverfahrens werden die folgenden Punkte besprochen:

  • Beschränkung der Beendigung von Verträgen, die für die wirtschaftliche Tätigkeit des Schuldners wesentlich sind;
  • neben der Möglichkeit der Beantragung einer einstweiligen Verfügung für einzelne Vollstreckungsverfahren besteht auch das Recht, eine einstweilige Verfügung mit Anordnung der Erfüllung aller Verträge zu beantragen, wenn dies für den Sanierungs­plan erforderlich ist;
  • erweiterte Möglichkeiten der Gruppenbildung im Sanierungs­plan, ggf. im Sinne einer gruppenübergreifenden Mehrheitsentscheidung;
  • verbesserte Effizienz der Option eines Tauschs von Schulden in Beteiligungskapital aufgrund der obligatorischen Klassifizierung und der gruppenübergreifenden Mehrheitsentscheidung;
  • Ablauf des Sanierungsverfahrens als öffentliches Verfahren;
  • Beschleunigung der Zustellung von Schriftstücken durch das nunmehr öffentliche Verfahren;
  • Vereinfachung der Entscheidung über Rechtsbehelfe;
  • Schutz von Zwischen- und Neufinanzierungen.

Aussetzung einzelner Vollstreckungsmaßnahmen

Eine Folge der Einleitung des Sanierungsverfahrens war gem. § 11 des alten Sanierungsgesetzes die Aussetzung der Zwangsvollstreckung in das Vermögen des Schuldners bis zur Genehmigung des Sanierungs­plans bzw. bis zur Beendigung des Sanierungsverfahrens. Der einzige andere Schutz gegen die Kündigung der Verträge des Schuldners war in § 6 des Sanierungsgesetzes geregelt. Diese Vorschrift sah die Nichtigkeit von Bestimmungen vor, die dem Gläubiger bei der Eröffnung eines Sanierungsverfahrens oder bei Genehmigung eines Sanierungs­plans die Möglichkeit zur Kündigung von Verträgen einräumten.

Leider schützte diese Regelung den Schuldner nicht vor den Vertragspartnern, die sich gegen die Sanierung ausgesprochen hatten und wegen der vor der Sanierung entstandenen Schulden die Kündigung von wesentlichen Verträgen verlangten. So konnte beispielsweise das Energieunternehmen den Vertrag kündigen und dem Schuldner wegen der Altschulden den Strom selbst dann abstellen, wenn der Schuldner die laufenden Verbindlichkeiten begleichen konnte und eine Sanierung möglich und sinnvoll gewesen wäre. Nach der Änderung des § 111 ist der Gläubiger nun nicht mehr berechtigt, einen für den Schuldner wesentlichen Vertrag zu kündigen oder dessen Erfüllung zu verweigern, nur weil die Schuld bereits vor der Eröffnung des Sanierungsverfahrens überfällig gewesen ist.

Vielmehr sieht § 111 des novellierten Sanierungsgesetzes nun vor, dass das Gericht bei einem Antrag des Schuldners auf Aussetzung der anderen Maßnahmen, insbesondere der Ausübung des Sicherungsrechts, die angeführten Maßnahmen auf Antrag des Schuldners oder des Sanierungsberaters bis zur Genehmigung des Sanierungs­plans bzw. bis zur Beendigung des Sanierungsverfahrens aussetzen kann, wenn dies für die Sanierung erforderlich oder den Verhandlungen über den Sanierungs­plan förderlich ist. Der Schuldner kann beantragen, die Vollstreckung in das belastete Vermögen zurückzustellen, wenn dieses Vermögen für die Durchführung der Sanierung erforderlich ist. Ferner räumt das Gesetz dem Schuldner weitere Möglichkeiten zum Schutz des Unternehmens im Hinblick auf die Vertragserfüllung ein, wenn dies zur Durchsetzung des Sanierungs­plans erforderlich ist.

Das reformierte Sanierungsgesetz bietet dem Schuldner daher zusätzliche Möglichkeiten zum Schutz der Vertragserfüllung. Dies gilt allerdings nur dann, wenn die Durchführung des Sanierungs­plans wahrscheinlich ist.

Bildung von Gruppen

Obwohl die erste Fassung des Sanierungsgesetzes keine Sonderregelungen für gesicherte Gläubiger vorgesehen hatte, hat das Oberste Gericht entschieden, dass über gesicherte Forderungen in getrennten Gruppen abzustimmen ist und der gesicherte Gläubiger als Ergebnis des Sanierungs­plans nicht schlechter gestellt sein darf als in einem Insolvenzverfahren. Daher ist also bereits nach dem alten Sanierungsrecht die Bildung von zwei Gruppen – gesicherte Gläubiger und ungesicherte Gläubiger – obligatorisch gewesen, auch wenn dies nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt gewesen war.

Seit der Gesetzesnovellierung ist die Bildung von Gruppen zwingend vorgeschrieben, wenn es gesicherte Gläubiger, ungesicherte Gläubiger, dem Schuldner nahestehende Gläubiger und vereinbarungsgemäß nachrangige Gläubiger (Mezzanine-Schulden) gibt. Beinhaltet der Sanierungs­plan den Tausch von Schulden in Beteiligungskapital, so sind die potenziellen Anteilseigner in einer gesonderten Gruppe zusammenzufassen. Gem. § 24 des neuen Sanierungsgesetzes ist der Sanierungs­plan angenommen, wenn die Gläubiger mit mindestens zwei Dritteln aller Stimmen für den Sanierungs­plan stimmen. Sind die Betroffenen in Gruppen eingeteilt, so ist der Plan angenommen, wenn in jeder Gruppe die Betroffenen mit mindestens zwei Drittel aller in der Gruppe vertretenen Stimmen für den Sanierungs­plan stimmen.

Gruppenübergreifende Mehrheitsentscheidung

Die Vollstreckbarkeit angenommener sowie nicht angenommener Sanierungspläne bedarf der gerichtlichen Bestätigung. Der angenommene Plan ist vom Gericht zu bestätigen, es sei denn, der Schuldner hat gegen seine Verpflichtungen verstoßen oder der Plan entspricht nicht den Vorschriften, z. B. Verstoß gegen die Regeln der Gruppenbildung.

Das Gericht kann aber bei Vorliegen der folgenden Voraussetzungen auch einen nicht angenommenen Plan bestätigen (gruppenübergreifende Mehrheitsentscheidung):

  • der Schuldner hat alle Formalitäten, einschließlich der Anforderungen für die Erstellung des Sanierungs­plans innerhalb der Gruppen, erfüllt;
  • der Sanierungs­plan wurde von mindestens einer Klasse von finanziell betroffenen Gläubigern gebilligt, um zu verhindern, dass nur Gläubiger der Out-of-the-money(OTM)-Klasse den Sanierungs­plan durchsetzen können;
  • der Sanierungs­plan gewährleistet, dass dissentierende Gruppen von betroffenen Gläubigern mindestens ebenso bevorzugt wie jede andere Gruppe gleichen Ranges und bevorzugter als jede nachrangige Gruppe behandelt werden;
  • keine Gruppe von betroffenen Gläubigern erhält im Rahmen des Sanierungs­plans mehr als ihre Gesamtforderung gegen den Schuldner.

Daher folgt das novellierte Sanierungsgesetz anerkannten Grundsätzen in Bezug auf die gruppenübergreifende Mehrheitsentscheidung, nämlich dem Grundsatz des besten Gläubigerinteresses und dem Billigkeitsprinzip, einschließlich der relativen Vorrangregel. Neben anderen Instrumenten bietet die gruppenübergreifende Mehrheitsentscheidung die Möglichkeit, den Tausch von Schulden in Beteiligungskapital selbst dann durchzusetzen, wenn die Gesellschafter dem Plan widersprechen, allerdings nur bei Einhaltung der oben genannten Grundsätze.

Zustellung von Schriftstücken

Im alten Sanierungsgesetz war das Sanierungsverfahren nicht öffentlich und auch nicht in Anhang A der Europäischen Insolvenzverordnung aufgeführt, seit der Novellierung ist es nun öffentlich. Daher wurde am 1. September 2022 ein Antrag bei der Europäischen Kommission auf entsprechende Änderungen in Anhang A und Anhang B der Europäischen Insolvenzverordnung eingereicht. Das estnische Sanierungsverfahren „Saneerimismenetlus“ wird in den Anhang A der Europäischen Insolvenzverordnung aufgenommen. Anhang B der Europäischen Insolvenzverordnung wird um die estnische Bezeichnung für den Sanierungsberater „Saneerimisnõustaja“ ergänzt.

Die anspruchsvolle Regelung zur Zustellung von Schriftstücken war im alten Sanierungsrecht angesichts der großen Anzahl der am Sanierungsverfahren beteiligten Parteien, einschließlich aller vom Sanierungs­plan erfassten Gläubiger, für die Gerichte und den Sanierungsberater umständlich und belastend. § 4 des novellierten Sanierungsgesetzes sieht nun die Möglichkeit einer vereinfachten Zustellung der Dokumente zur Durchführung eines effizienten und beschleunigten Sanierungsverfahrens vor.

Rechtsbehelfe

Nach § 61 Abs. 1 des geänderten Sanierungsgesetzes können gegen eine erstinstanzliche gerichtliche Entscheidung im Sanierungsverfahren Rechtsmittel eingelegt werden – jedoch nur, wenn dies ausdrücklich im Sanierungsgesetz vorgesehen ist. Gem. § 61 Abs. 2 ist ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung eines zweitinstanzlichen Gerichts (Rechtsmittelgericht) ebenfalls nur dann zulässig, wenn dies ausdrücklich im Sanierungsgesetz geregelt ist. Die Möglichkeit zur Einlegung von Rechtsmitteln ist dadurch erheblich verringert worden, was zu einem vereinfachten Verfahren und damit zur effektiveren Umsetzung des Sanierungsverfahrens geführt hat.

Schutz von Zwischen- und Neufinanzierung

Gem. § 150 der estnischen Insolvenzordnung haben die Zwischenfinanzierung und die Neufinanzierung in jedem künftigen Insolvenzverfahren Vorrang. Die Zwischen- und Neufinanzierungen unterliegen nicht der Anfechtung in einem etwaigen künftigen Insolvenzverfahren (§ 1131 Insolvenzordnung).

§ 1131 der estnischen Insolvenzordnung legt auch fest, dass eine Transaktion im Rahmen des bei einem Schuldner durchgeführten Sanierungsverfahrens in einem späteren Insolvenzverfahren nicht den Anfechtungsregeln unterliegen kann, wenn durch diese Transaktion:

  • der Gläubiger den Schuldner im Rahmen des Sanierungsverfahrens zwecks Genehmigung und Erfüllung der Vorgaben des Sanierungs­plans finanziert und das Gericht den Betrag, die Quellen und die Bedingungen dieser Finanzierung im Rahmen des Sanierungs­plans genehmigt hat (Neufinanzierung);
  • der Gläubiger den Schuldner in der Zeit zwischen der Stellung eines Antrags auf ein Sanierungsverfahren und der Genehmigung des Sanierungs­plans finanziert hat, dies zu angemessenen Bedingungen erfolgt ist und unmittelbar für die Fortführung der Tätigkeiten des Unternehmens oder für die Erhaltung oder Steigerung seines Werts erforderlich war (Zwischenfinanzierung).

Daher ist die Zwischenfinanzierung vor Anfechtungsklagen geschützt, wenn es sich um eine neue Zwischenfinanzierung handelt, die für die Fortführung des Geschäftsbetriebs des Schuldners oder für die Erhaltung oder Steigerung des Werts dieses Geschäfts (gem. der Definition in der Richtlinie) angemessen und unmittelbar erforderlich ist, und ferner nur im Falle einer gerichtlich erteilten Genehmigung des Plans. Eine Ex-ante-Kontrolle der Zwischenfinanzierung ist nicht erforderlich.

Fazit

Das Sanierungsverfahren ist mit den durch die Umsetzung der Richtlinie in das Gesetz aufgenommenen Änderungen effizienter geworden.

Das novellierte Sanierungsgesetz gewährt dem Schuldner die Versorgung mit den wesentlichsten Dingen, auch wenn der Schuldner zwar nicht zur Zahlung der vor dem Sanierungsverfahren entstandenen Schulden, aber zur Durchführung des Sanierungs­plans in der Lage ist. Daneben kann der Schuldner bei Gericht einen Antrag auf Anordnung der Vertragserfüllung stellen, wenn die Erfüllung für die Durchführung des Sanierungs­plans erforderlich ist.

Die Bildung von Gruppen und die Einführung der gruppenübergreifenden Mehrheitsentscheidung bieten mehr Möglichkeiten zur Durchführung eines fundierten Sanierungs­plans, selbst wenn eine Gruppe gegen den Sanierungs­plan stimmt. So ist beispielsweise der Tausch von Schulden in Beteiligungskapital nach den Regeln für die gruppenübergreifende Mehrheitsentscheidung selbst dann möglich, wenn die Gesellschafter dem Plan widersprechen. Bei der Durchführung der gruppenübergreifenden Mehrheitsentscheidung sollten u. a. der Grundsatz der Prüfung des besten Gläubigerinteresses und das Billigkeitsprinzip, einschließlich der relativen Vorrangregel, beachtet werden.

Das Sanierungsverfahren nach dem novellierten Sanierungsgesetz ist ein öffentliches Verfahren. Mit der Eintragung in Anhang A und B der EuInsVO ist die Anerkennung innerhalb Europas gewährleistet.

Das novellierte Sanierungsgesetz schützt die Zwischen- und die Neufinanzierung. Diesen Finanzierungsarten wird im Insolvenzverfahren ein Vorzugsstatus eingeräumt, wobei die Zwischenfinanzierung und die Neufinanzierung von der Anwendung der Anfechtungsvorschriften ausgeschlossen sind.

 

Autor

Anto Karak ist Partner der Kanzlei Kasak & Lepikson in Tallinn, Estland, sowie Dozent für Insolvenzrecht an der Universität Tartu.
E-Mail: anto@kasaklepikson.ee

Download

Hier steht der Aufsatz zum Download​​​​​​​ bereit.