Sanierungsfähigkeit und Digitalisierungsgrad

Von Matthias Müller, M.Sc. Finanz- und Informationsmanagement, B.Sc. Volkswirtschaft, Volker Riedel, Diplom-Ökonom für Steuern und Wirtschaftsprüfung, und Dr. Michael Rozijn, Rechtsanwalt und Fachanwalt für IT-Recht

Durch die Corona-Pandemie stand die deutsche Wirtschaft vor der größten Herausforderung seit Jahrzehnten. Jedoch zeigen Studien, dass innovative Unternehmen deutlich widerstandsfähiger gegenüber Wirtschaftskrisen sind als nicht innovative. Corona hat dies nur bestätigt. Besonders all jene sind negativ betroffen, welche bereits vor Ausbruch der Pandemie als Nachzügler der digitalen Transformation galten. Diese konnten nur langsam digitale Kompetenzen aufbauen, um beispielsweise Produkte online zu vertreiben oder digitale Produktivitätsmaßnahmen, wie effektives Arbeiten im Home-Office, umzusetzen. Die Studie zum Digitalisierungsindex des deutschen Mittelstandes für 2020/2021 zeigt, dass 80 % der digitalen Vorreiter gut durch die Coronakrise kamen, da ihre Prozesse und Geschäftsmodelle schon davor stark digitalisiert waren. Dem gegenüber stehen die restlichen Unternehmen, bei denen nur 36 % vergleichbare Ergebnisse erzielten.

Trotz anfänglicher Digitalisierungs-Euphorie zu Beginn der Pandemie scheint die digitale Transformation nicht bei allen in derselben Weise angekommen zu sein. Während laut einer Umfrage der KfW vom Januar 2021 immerhin 33 % der befragten Mittelständler ihre Digitalisierungsaktivitäten gesteigert/(wieder-) aufgenommen haben, haben ebenso 33 % gar keine vorgenommen, und 5 % haben diese reduziert. Bei jenen, die existenziell von der Krise betroffen sind, haben sogar 15 % ihre Digitalisierungsaktivitäten verringert oder ganz eingestellt. Grund dafür könnten mangelnde finanzielle Mittel sein.

Jedoch besteht noch Hoffnung: Eine moderne und rasche Restrukturierung bietet die Möglichkeit, die aktuelle Situation als Chance zu nutzen und mit der digitalen Transformation ein solides Fundament für einen erfolgreichen Turnaround zu bauen. Besonders dem CFO kommt hierbei die Rolle des „digitalen Transformers“ zu, da er am besten Wachstumsanreize für Innovationen setzen kann. Wir zeigen in diesem Artikel, welche Faktoren es zu beachten gilt und wie sich die digitale Transformation auf den mittel- bis langfristigen Unternehmenserfolg auswirkt.

Während die digitale Transformation die Veränderungsprozesse ganzer Branchen und Gesellschaften durch Technologien prägt, nimmt sie ihren Anfang bei den Unternehmen. Grundvoraussetzung ist die Änderung von Informationen von analog auf digital. Daraufhin folgt die digitale Transformation der Unternehmensprozesse. Die dadurch generierten Daten können mittels Business Analytics-Methoden und -Tools analysiert werden. Per Definition ist Business Analytics ein auf Daten und Algorithmen basierter Prozess zur Gewinnung von Fakten. Auf deren Basis werden betriebswirtschaftliche Entscheidungen getroffen. Zu beachten ist, dass die digitale Transformation ein stetig fortlaufender Prozess ist. Die Zeit wird immer neue Technologien zutage fördern, die gewinnbringend eingesetzt werden können.

Manche Ökonomen sprechen heutzutage von Daten als drittem relevanten Produktionsfaktor neben Kapital und Arbeit. Viele der aktuell innovativsten Unternehmen, sei es Netflix oder Google, verdanken ihnen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil durch die Schaffung intelligenter Produkte und Prozesse. Eine zielgerichtete Hebung des digitalen „Datenschatzes“ birgt für das Management die Chance, von einer subjektiven und fehleranfälligen Heuristik-basierten hin zu einer objektiven und evidenzbasierten Entscheidungsfindung zu gelangen. Business Analytics-Methoden können hierbei während des gesamten Management-Zyklus, von der Zielsetzung bis hin zur Steuerung des Unternehmens, Anwendung finden.

Finanzseitig besteht in der Top-line Wachstumspotenzial, indem neu identifizierte Märkte erschlossen, innovative Produkte eingeführt oder Kundenbedürfnisse besser befriedigt werden. Hin zur Bottom-line ermöglicht eine gezielte Datenauswertung Kosteneinsparungen durch die Identifizierung von Schwachstellen bei Prozessqualität, Zuverlässigkeit und Geschwindigkeit.

Die digitale Transformation ist heute also zunehmend datengetrieben. Jedoch braucht es mehr als nur Daten, um das Unternehmen dadurch zu einem nachhaltigen Unternehmenserfolg zu führen. Die folgende Digitalisierungs-Matrix schlüsselt die relevantesten Faktoren auf.

 

Abbildung 1: W&P Digitalisierungs-Matrix


Grundstein eines jeden Unternehmens ist dessen Geschäftsmodell, welches auf die Vision hin ausgerichtet ist und durch die Strategie umgesetzt wird. Das Unternehmen steht dabei im marktspezifischen Wettbewerb. Um nachhaltig erfolgreich zu sein, müssen neben unternehmenseigenen Faktoren immer die aktuelle Marktdynamik und die dortigen technologischen Entwicklungen im Auge behalten werden. Im Unternehmen ist das gut abgestimmte Zusammenspiel von Mensch und Maschine (Technologie) entscheidend für den Unternehmenserfolg.

Technologie ist zweifelsohne der „Enabler“ der digitalen Transformation. Die rechte Technologieseite der Matrix ist in drei Bereiche aufgegliedert. Das Notwendigste, die Basistechnologien, haben hier zu Beginn Vorrang. Für fortgeschrittene und Zukunftstechnologien braucht es Erfahrung, um diese gewinnbringend einzusetzen. Beispielsweise sind für die Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI) viele passende Daten mit einer hohen Datenqualität notwendig. Dafür braucht es u. a. moderne Enterprise-Resource-Planning (ERP) und Speichersysteme, ohne die diese Daten gar nicht erst bereitgestellt werden können.

Dem gegenüber steht der Mensch bzw. stehen die Mitarbeiter und Kunden des Unternehmens auf der linken Seite. An dieser Stelle kann man nicht oft genug betonen, dass immer der Mensch und nicht die Technologie im Vordergrund steht.

  • Das Management als Ausgangspunkt, um die zukunftsweisenden Digitalisierungsanreize zu setzen, die zu verfolgende Strategie vorzugeben und diese umzusetzen. Ein digitales Mindset, feinfühliges Change-Management und konsequenter Umsetzungswille sind Voraussetzungen.
  • Eine innovationsfördernde Unternehmenskultur, in der Leistungen belohnt werden, Risiken eingegangen und Fehler gemacht werden dürfen. Die Relevanz der Kultur für die digitale Transformation kann nur deutlich unterstrichen werden. Leider wird sie häufig unterschätzt. Die digitale Organisation von heute ist auf kreatives Entrepreneurship ausgerichtet, und das nicht nur im Management. Sie ist agil und durch flache Hierarchien gekennzeichnet. Interdisziplinäre Kollaboration und Verantwortung werden großgeschrieben.
  • Die Kultur wird von den Mitarbeitern geprägt, gelebt und zusammengehalten. Sie sind der Motor, der das Unternehmen am Laufen hält, und somit der Schlüssel zum Erfolg. Während das Recruiting von „Digital Natives“ (Stichwort: attraktive Unternehmenskultur) eine große Rolle spielt, müssen treue, erfahrene Mitarbeiter die Möglichkeit erhalten, sich fortzubilden und weiterzuentwickeln.
  • Schlussendlich gilt es, neben all dem vor allem immer die Kundenerfahrung voranzustellen und sich davon ausgehend zur Technologie zurückzuarbeiten. Nicht andersherum.

Daten und Prozesse sind die zentrale Säule und das Verbindungselement von Mensch und Technologie.

  • Wenn die Mitarbeiter der Motor des Unternehmens sind, sind Daten im digitalen Zeitalter dessen Treibstoff. Daten liefern Fakten für gewinnbringende Entscheidungen. Die effektive Nutzung setzt beides voraus, die richtigen Technologien, die Daten zu generieren, zu sammeln und zu speichern, als auch zugleich Menschen, die Daten wiederum mithilfe von Technologien analysieren, interpretieren und modellieren.
  • Zweiter Bestandteil dieser tragenden Säule sind effiziente, effektive und präzise gesteuerte Prozesse. Operational Excellence, wieder an der Schnittstelle zwischen Mensch und Technologie, lautet das Zauberwort. Eine moderne, digitale Prozessanalyse mittels beispielsweise Process Mining und Analytics ermöglicht ein Aufdecken und Beheben datenbasierter Schwachstellen innerhalb aller End-to-End-Prozesse.

Welchen Nutzen stiftet die digitale Transformation nun in der Sanierung? Allgemein bezweckt eine Sanierung ein rentables und langfristiges Weiterbestehen
des Unternehmens am Markt. Dafür werden die Sanierungsfähigkeit und Sanierungswürdigkeit des Unternehmens ermittelt. Dies setzt voraus, dass die Wettbewerbsfähigkeit als auch Renditefähigkeit des Unternehmens im relevanten Markt wiedererlangt werden.

Die Praxis zeigt, dass viele Unternehmen sanierungsbedürftig sind, da sie den frühzeitigen Aufbruch zur digitalen Transformation verabsäumt haben. In der Stakeholder-/Strategiekrise wurde keine (konsequente) Digitalisierungsstrategie definiert und Investitionen blieben aus. Wettbewerber sind in der Produkt- und Absatzkrise näher am Markt und den Bedürfnissen der Kunden. Deutlicher zeichnet sich das in der Erfolgskrise ab, in der analog geführte Prozesse ineffektiv und ineffizient sowie die Kostenstrukturen nicht wettbewerbsfähig sind.

In der Liquiditätskrise ist es auch fast schon zu spät, den dringend notwendigen Aufbruch zur Transformation zu wagen. Zu niedrige Cashflows und ein fehlendes Vertrauen der Shareholder und Kreditoren erschweren die Aufbringung liquider Mittel, um Investitionen zu tätigen.

Je weiter das Krisenstadium vorangeschritten ist, desto komplexer wird die Sanierung und desto herausfordernder ist die Integration der digitalen Transformation. Jedoch ist diese trotzdem besonders im Hinblick auf die langfristige Wettbewerbsfähigkeit unerlässlich. Ansonsten besteht nach der Sanierung erneut die Gefahr, vom Markt zurückgelassen zu werden. Zusätzlich ermöglichen aktuelle Business Analytics-Tools bei einer ausreichenden Datenbasis, rasch Einblicke in die Ausgangssituation zu gewinnen und belastbare Maßnahmen zu bilden. Geschwindigkeit, Transparenz und Zuverlässigkeit sind die Schlagworte, die Vertrauen schaffen.

In einer modernen und auf langfristigen Erfolg ausgerichteten Sanierung wird neben den „klassischen“ Finanzierungs- und Restrukturierungsaspekten die Digitalisierung des Unternehmens aus der strategischen Marktsicht sowie der operativen Wertschöpfungssicht betrachtet. Es geht um die Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit und gleichzeitig die Gewinnung des Vertrauens aller Stakeholder in die Sanierung, was die Erfolgsaussichten maßgeblich verbessert.

Mittels des folgenden Scoring-Modells lässt sich die Lage des Unternehmens hinsichtlich dessen Finanzkraft und dessen Digitalisierungs-Stand beleuchten. Im „Digitalen Transformations-Score“ werden der Ist-Zustand ebenso wie ungenützte Potenziale anhand von Kriterien der „Digitalisierungs-Matrix“ genauer analysiert und ausgewertet. Zugleich findet im „Finanzierungs-Score“ eine Einordnung der finanziellen Stärke des Unternehmens statt. Dieser bewertet die Ertragskraft und lichtet Potenziale möglicher Finanzierungsformen, die für Investitionen benötigt werden.

 

Abbildung 2: Digitalisierungs-Szenarien & W&P-Scoring-Modell


Das Scoring-Modell zeigt den Zielkonflikt zwischen kurzfristig teuren Investitionen und mittel- bis langfristig gewonnener Wettbewerbsfähigkeit durch die digitale Transformation des Geschäftsmodells. Während die Finanzkraft des Unternehmens in Szenario „Win“ kurzfristig wegen notwendiger Investitionen, folglich geringerer Netto-Finanzflüsse, höherer Verschuldung und/oder einer geringeren Eigenkapitalquote sinkt, stellt sich diese langfristig als Erfolg versprechender heraus. In Szenario „Lose“ ist die Finanzkraft zwar kurzfristig stabiler. Dies ist jedoch nur eine Schein-Sicherheit, da umsatz- und kostenseitige Schwachstellen des weniger innovativen Unternehmens langfristig zu einer Abwärtsspirale von Krisen und schlimmstenfalls zur Insolvenz führen werden.

Die Rechtsprechung hat im Laufe der Zeit die Voraussetzungen umrissen, denen Sanierungsgutachten und -konzepte genügen müssen, um gerichtlich belastbar zu sein und damit insbesondere auch Geschäftsleitung und Kreditgebern Schutz vor haftungs- und anfechtungsrechtlichen Inanspruchnahmen zu bieten oder eine Verletzung regulatorischer Anforderungen oder strafrechtlicher Insolvenzdelikte zu verhindern.

Sanierungskonzepte und dementsprechend auch Sanierungsgutachten werden sich zunehmend mit dem Thema Digitalisierung befassen. Angesichts der Bedeutung der Digitalisierung eines Unternehmens für dessen Zukunftsfähigkeit wird man bei verständiger Auslegung der Anforderungen der Rechtsprechung an Sanierungskonzepte davon auszugehen haben, dass Digitalisierungsaspekte nicht nur zum Erfolg der Sanierung beitragen können, sondern bereits heute eine fehlende oder unzureichende Berücksichtigung der Digitalisierungsthematik die Unzulänglichkeit oder Unschlüssigkeit eines Sanierungskonzeptes begründen kann.

Während Sanierungskonzepte erst mit dem Eintritt einer Krise Bedeutung erlangen, wurde mit dem zum 1. Januar 2021 in Kraft getretenen StaRUG in Umsetzung der EU-Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz eine allgemeine Pflicht zur Krisenfrüherkennung eingeführt. § 1 Abs. 1 StaRUG verpflichtet die Geschäftsleitung von haftungsbeschränkten Unternehmen, ein System zur Risikoüberwachung und Krisenfrüherkennung zu implementieren und fortlaufend über solche Entwicklungen zu wachen, die den Fortbestand des Unternehmens gefährden können. Definiert ist der Begriff „Frühwarnsystem“ weder im deutschen StaRUG noch in der EU-Richtlinie. Jedoch wird ein System, das eine fortlaufende und revolvierende Überwachung gewährleistet, ab einer gewissen Unternehmensgröße ohne eine digitale Unterstützung kaum denkbar sein.

Soweit eine unzureichende Digitalisierung unmittelbar den oder einen wesentlichen Grund für die Krise des Unternehmens bildet, ist dieser Umstand bereits im Rahmen der notwendigen Analyse der Situation des Unternehmens und der Identifizierung der Krisenursachen zu erfassen. So sieht der Bundesgerichtshof (BGH) in der Analyse der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens in Bezug auf die jeweilige Branche und die Identifizierung etwaiger leistungswirtschaftlicher Krisenursachen unverzichtbare Bestandteile eines Sanierungskonzeptes. Bildet der unzureichende Digitalisierungsstand bereits eine unmittelbare Krisenursache, muss das Sanierungskonzept daher Maßnahmen zu seiner Beseitigung darstellen. Es ist davon auszugehen, dass ein unzureichender Digitalisierungsstand vermehrt Anlass von notwendigen Sanierungen sein wird.

Aber auch wenn eine unzureichende Digitalisierung (noch) keine unmittelbare Krisenursache bildet, sondern die von der Rechtsprechung geforderte Analyse der wirtschaftlichen Lage ergibt, dass die Krise andere leistungswirtschaftliche oder rein finanzierungsbezogene Ursachen hat, ist dem Digitalisierungsaspekt regelmäßig weitere Aufmerksamkeit zu schenken. So verlangt der BGH, dass ein Sanierungskonzept sich nicht auf eine positive Fortbestehensprognose beschränken darf, sondern die vorgesehenen Sanierungsmaßnahmen geeignet sein müssen, eine nachhaltige Sanierung und Wiederherstellung der Rentabilität zu erreichen. Die im Rahmen des Sanierungskonzeptes geplanten Maßnahmen müssen zusammen objektiv geeignet sein, das Unternehmen in überschaubarer Zeit durchgreifend zu sanieren. Ein den Anforderungen der jeweiligen Branche nicht mehr genügender Digitalisierungsstand wird zunehmend ein erhebliches Hindernis für eine über die kurzfristige Überwindung einer Krise hinausgehende nachhaltige Sanierung darstellen. Dies gilt umso mehr infolge der Transformationsbeschleunigung, die die Corona-Pandemie in einigen Bereichen ausgelöst hat. Insoweit kann parallel zu dem oben anhand des Scoring-Modells aufgezeigten Spannungsverhältnis zwischen Digitalisierungsgrad und Finanzlage der Effekt eintreten, dass sich ein Verzicht auf Digitalisierungsaufwand zwar positiv auf die kurzfristige Finanz- und Liquiditätslage und damit auf die Fortbestehensprognose des Unternehmens auswirkt, gleichzeitig jedoch bereits bei mittelfristiger Betrachtung die Wettbewerbsfähigkeit und damit einen dauerhaften Sanierungserfolg infrage stellt.

Sanierungsgutachten und -konzepte werden regelmäßig nach dem Standard des Instituts der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e. V. (IDW) „Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6)“ (IDW S 6 – Fassung 2018) erstellt. Der IDW S 6-Standard hat den Anspruch, sämtliche in der einschlägigen Rechtsprechung des BGH und der Instanzgerichte formulierten Anforderungen an Sanierungskonzepte zu berücksichtigen und in betriebswirtschaftlicher Hinsicht zu konkretisieren.

Als Reaktion auf die vom BGH formulierte Anforderung, dass ein Sanierungskonzept auf eine durchgreifende Sanierung des Unternehmens abzielen und ausgerichtet sein muss, sieht der IDW S 6-Standard einen grundlegenden zweistufigen Aufbau für die Feststellung der Sanierungsfähigkeit vor. Während im ersten Schritt das Vorliegen einer positiven insolvenzrechtlichen Fortbestehensprognose festzustellen ist, ist aufbauend hierauf sodann die nachhaltige Fortführungsfähigkeit oder Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu ermitteln. Wettbewerbsfähig ist ein Unternehmen danach, wenn es über ein tragfähiges Geschäftsmodell, marktfähige Produkte bzw. Dienstleistungen, leistungsfähige Mitarbeiter, ein qualifiziertes Management, funktionierende Prozesse und Wandlungs- und Adaptionsfähigkeit verfügt.

Aufgrund der besonderen Bedeutung, die dem Digitalisierungsgrad in vielen Branchen schon heute zukommt und die weiter zunimmt, spricht die im Jahr 2018 aktualisierte Fassung des IDW S 6 ausdrücklich, wenn auch nur beispielhaft, in Abhängigkeit von dem jeweiligen Geschäftsmodell, die Herausforderungen der Digitalisierung an. So sieht der IDW S 6 für die interne und externe Analyse der Unternehmenslage die Einschätzung vor, inwieweit das Unternehmen voraussichtlich in der Lage ist, sich auf die Herausforderungen der Digitalisierung rechtzeitig einzustellen. Darüber hinaus findet die Digitalisierung im IDW S 6 im Zusammenhang mit dem Kriterium der Wettbewerbsfähigkeit Erwähnung. Danach gründet sich die Wettbewerbsfähigkeit „neben dem Mitarbeiterpotenzial regelmäßig auch auf die Wandlungs- und Adaptionsfähigkeit des Unternehmens an externe Entwicklungen (z. B. im Zusammenhang mit den Herausforderungen der Digitalisierung)“.

Soweit dies im konkreten Fall nicht evident ist, erscheint es angezeigt, im Sanierungskonzept zumindest festzuhalten, ob die Digitalisierung einen wesentlichen Einflussfaktor für das Geschäftsmodell bildet. Wird diese Frage bejaht, wird man weitere Ausführungen zum Grad der Abhängigkeit und zum Stand der Digitalisierung bzw. zur Erreichbarkeit eines ausreichenden Digitalisierungsstandes erwarten können. Um insoweit eine systematische und belastbare Grundlage zu schaffen, bietet sich der Einsatz von Methoden zur Analyse des Digitalisierungsgrades an. Es stehen verschiedene methodische Ansätze und Angebote zur Verfügung, u. a. Online-Selbstbewertungen und Benchmarking-Ansätze. Soweit die gewählte Methodik nicht generell oder für den konkreten Fall untauglich ist, wird sie für die rechtliche Beurteilung des Sanierungsgutachtens grundsätzlich keine Bedeutung haben. Umfang und Detailtiefe der Darstellung wird man im Einzelfall neben der Bedeutung, die die Digitalisierung für die Branche und das konkrete Geschäftsmodell hat, auch von der Größe des Unternehmens abhängig machen müssen.

Es stellt sich die Frage, ab wann aufgrund einer unzureichenden, fehlerhaften oder fehlenden Berücksichtigung der digitalen Positionierung ein Sanierungskonzept als unschlüssig gilt und inwieweit diese Frage gerichtlich überprüfbar ist. Einschlägige Rechtsprechung zur Berücksichtigung des Digitalisierungsgrades im Rahmen einer Sanierung existiert – soweit ersichtlich – nicht. Sicherlich wird dies u. a. auch darauf zurückzuführen sein, dass das Fehlen oder ein Fehler der Bewertung des Digitalisierungsgrades im Sanierungskonzept schon sehr evident sein müssen, um von einem berechtigten Anspruchsteller (Insolvenzverwalter, Gläubiger) zum Ansatzpunkt für eine Schadensersatzforderung und zum Anlass einer entsprechenden Klage gemacht zu werden. An einer derartigen Evidenz dürfte es u. a. in Ermangelung vereinheitlichter Maßstäbe zumeist fehlen.

Für die Frage der Erkennbarkeit der Ausgangslage und für die Prognose der Durchführbarkeit stellt der BGH auf einen „unvoreingenommenen branchenkundigen Fachmann“ ab. So verlangt der BGH etwa, dass schlechte Aussichten für die betreffende Branche im Rahmen der Erstellung eines Sanierungskonzeptes zu berücksichtigen sind. Die Perspektive eines unvoreingenommenen branchenkundigen Fachmanns wird man auch auf die Beurteilung des Digitalisierungsgrades anwenden können, wozu regelmäßig Gutachten gerichtlich bestellter Sachverständiger einzuholen sein werden. Da der Auswahl der Sanierungsmaßnahmen und der Entwicklung des Wettbewerbsumfeldes prognostische Beurteilungen zugrunde liegen, wird der Sachverständige regelmäßig lediglich zu beurteilen haben, ob die Darstellung, Analyse und Prognose in tatsächlicher Hinsicht hinreichend fundiert und schlüssig ist bzw. ob die geplanten Maßnahmen zur digitalen Ausstattung und Ausrichtung und die damit verbundenen Einschätzungen nachvollziehbar und vertretbar sind. Jenseits von Fällen, in denen der Aspekt der Digitalisierung übergangen oder auf unrichtiger Sachgrundlage behandelt wird, und jenseits solcher Fälle, in denen der Thematik mit offenkundig untauglichen oder ungenügenden Mitteln begegnet wird, dürften damit die prozessualen Hürden, um einen Fehler des Sanierungskonzeptes in Bezug auf den Digitalisierungsgrad zu belegen, relativ hoch sein.

Entsprechend steht zu vermuten, dass die Digitalisierung trotz ihres hohen Stellenwertes für den Erfolg und die Nachhaltigkeit einer Sanierung in der Judikatur einstweilen noch eine eher untergeordnete Rolle spielen wird.

Aus der Rechtsprechung, dem IDW S 6 wie auch der Gesetzgebung sind deutliche Tendenzen erkennbar, dass der Digitalisierungsgrad eines Unternehmens im Zusammenhang mit der Krisenvermeidung und -bewältigung zunehmend an Bedeutung gewinnt. Eine grundsätzliche Erwartung zumindest eines Mindeststandards an Digitalisierung in Abhängigkeit von Größe, Rechtsform und Branche lassen sich zum einen aus den Anforderungen der Rechtsprechung für Sanierungskonzepte sowie aus der aktuellen Fassung des IDW S 6 ableiten. Zum anderen stellen die EU-Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz sowie das StaRUG mit dem Erfordernis zur Einrichtung von Frühwarnsystemen Anforderungen, die regelmäßig eine digitale Unterstützung erfordern dürften. Konkretisierungen des Maßstabs zur Digitalisierung sind hieraus aber nicht abzuleiten, was die Justiziabilität dieser Verpflichtungen und Anforderungen äußerst schwierig machen wird.

Nichtsdestotrotz ist die intensive Digitalisierungs-Analyse des Geschäftsmodells und der Unternehmensprozesse aus betriebswirtschaftlicher Sicht bereits heute für die Tragfähigkeit des Sanierungskonzeptes unumgänglich. Eine fortschrittliche Digitalisierungs-Strategie prägt nicht nur den mittel- bis längerfristigen Unternehmenserfolg, sondern wirkt sich zudem auch maßgeblich auf den unmittelbaren Sanierungserfolg aus. Erst tragfähige Geschäftsmodelle schaffen das essenzielle Vertrauen bei den „rettungsrelevanten“ Stakeholdern der Sanierung, nämlich den Gläubigern, Banken und Investoren.

Autor

Matthias Müller, M.Sc. Finanz- und Informationsmanagement, B.Sc. Volkswirtschaft, begleitet Projekte rund um Sanierung, Restrukturierung, Finanzierung und Insolvenz. Sein spezifischer Fokus sind dabei Fragestellungen an der juristisch-betriebswirtschaftlichen Nahtstelle.
E-Mail: Mueller.Matthias@wieselhuber.de

Autor

Volker Riedel, Diplom-Ökonom für Steuern und Wirtschaftschaftsprüfung, ist geschäftsführender Gesellschafter der Dr. Wieselhuber & Partner GmbH und berät Familienunternehmen, Investoren und Insolvenzverwalter bei anspruchsvollen Finanzierungen, in Fragen der Restrukturierung sowie in kaufmännischen Lösungen im insolvenznahen Umfeld.
E-Mail: Riedel@wieselhuber.de

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