Französischer Kassationsgerichtshof: Berufsverbot bei fehlendem Insolvenzantrag trotz Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit

26. April 2022 Blog International

Das französische Recht kennt keine Strafbarkeit der Insolvenzverschleppung, wie sie etwa § 15a Abs. 4-6 InsO regelt. Als eine der möglichen Sanktionen der Insolvenzverschleppung sieht das französische Insolvenzrecht allerdings die Verhängung eines Verbots der Leitung von Unternehmen vor. Dies setzt ein bewusstes Versäumnis der Antragstellung trotz Antragspflicht voraus. Mit seinem Urteil vom 12.01.2022 stellt der französische Kassationsgerichtshof Anforderungen an Geschäftsleiter auf, die der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters gem. § 15b InsO annähernd entsprechen.

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Ronan Dugué
Ronan Dugué

Avocat (Rechtsanwalt, zugelassen in Frankreich)

Rechtsanwalt

Sanktion der Pflichtverletzung eines Geschäftsleiters, der es versäumt, einen fristgerechten Insolvenzantrag ab Kenntnis über die eingetretene Zahlungsunfähigkeit zu stellen

Französischer Kassationsgerichtshof (Cour de cassation), Urteil vom 12.01.2022 – 20-21.427

I. Leitsatz des Verfassers
Ein Geschäftsführer, der es versäumt, die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu beantragen, obwohl das Unternehmen nicht in der Lage ist, den Arbeitgeberanteil der Sozialversicherungsbeiträge seit über einem Jahr, die Mehrwertsteuer seit mehreren Monaten und die Gehälter seit vier Monaten zu zahlen, hat bewusst die 45-tägige Antragsfrist überschritten. Gegen ihn kann ein Verbot zur Leitung von Unternehmen verhängt werden.

Die Tatsache, dass die Zahlungsunfähigkeit dem Geschäftsführer zum Zeitpunkt des gerichtlich festgesetzten Datums der Zahlungsunfähigkeit noch nicht bewusst war, reicht nicht aus, um diesen Tatbestand der Insolvenzverschleppung auszuschließen, falls sich aus den Umständen ergibt, dass zwischen der Kenntnis des Geschäftsleiters von der Zahlungsunfähigkeit und der Stellung des Insolvenzantrags mehr als 45 Tage liegen.

II. Sachverhalt
Der Geschäftsführer einer französischen GmbH stellte am 23.03.2016 einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Das Insolvenzverfahren wurde am 06.04.2016 eröffnet. Das Insolvenzgericht bestimmte als Datum des Zahlungsunfähigkeitseintritts den 06.10.2014. Der Insolvenzverwalter beantragte, dem Geschäftsführer die Leitung von Unternehmen gemäß Art. L653-8 Abs. 3 des französischen HGB (Code de commerce) aufgrund eines zu spät eingereichten Insolvenzantrags zu verbieten.

Der Geschäftsführer trug vor, es könne ihm nicht vorgeworfen werden, nicht innerhalb von 45 Tagen ab dem gerichtlich festgesetzten Datum der Zahlungsunfähigkeit Insolvenzantrag gestellt zu haben, da er zum Zeitpunkt der ereigneten Zahlungsunfähigkeit kein Bewusstsein über die Zahlungsunfähigkeit gehabt habe. Die gesetzliche Bedingung der „bewussten“ Unterlassung einer Antragsstellung auf Insolvenzeröffnung sei nicht erfüllt.

Vor dem Berufungsgericht wurde der Geschäftsführer zum siebenjährigen Verbot der Ausübung der Leitung eines Unternehmens verurteilt. Er legte Revision ein. Der Kassationsgerichtshof stellte fest, dass bereits ab dem ersten Halbjahr 2015 der Arbeitgeberanteil der Sozialversicherungsbeiträge nicht abgeführt werden konnte, die Mehrwertsteuer ab dem letzten Quartal desselben Jahres nicht entrichtet wurde und die Gehälter in den letzten vier Monaten vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gezahlt wurden. Daraus könne das Berufungsgericht schließen, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt des am 23.03.2016 gestellten Insolvenzantrags der Geschäftsführer es bewusst versäumt hatte, einen Insolvenzantrag innerhalb der gesetzlichen Frist von 45 Tagen zu stellen.  

III. Rechtliche Wertung
Die sog. „Einstellung der Zahlungen“, das maßgebliche Merkmal für die Insolvenzreife nach französischem Insolvenzrecht, kommt – trotz unterschiedlicher Definition – der Zahlungsunfähigkeit nach deutschem Insolvenzrecht praktisch sehr nahe. Der Einfachheit halber wird im vorliegenden Artikel der Begriff Zahlungsunfähigkeit für die Einstellung der Zahlungen verwendet. Nach den Art. L631-4 und L640-4 des französischen HGB haben Unternehmer und gesetzliche Vertreter von juristischen Personen einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens spätestens 45 Tage nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit zu stellen. Das Datum der Zahlungsunfähigkeit wird im Urteil zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens vom Insolvenzgericht festgelegt. Falls das Urteil kein Datum bestimmt, so gilt das Datum des Eröffnungsurteils als Datum der Zahlungsunfähigkeit. Im Nachgang zum Eröffnungsurteil kann das Gericht dieses Datum jedoch auf einen früheren Zeitpunkt vorverlegen. Dennoch kann das gerichtlich festgelegte Datum der Zahlungseinstellung auf keinen Fall mehr als 18 Monate vor dem Eröffnungsurteil liegen (Art. L631-8 Abs. 1 und 2 franz. HGB) – auch falls sie tatsächlich noch früher eingetreten ist. Diese zeitliche Begrenzung soll der Rechtssicherheit dienen.

Der Zeitpunkt der so bestimmten Zahlungsunfähigkeit ist für zahlreiche Regelungen des französischen Insolvenzverfahrens maßgeblich, beispielsweise für die Feststellung, ob und aus welchem Zeitraum Rechtshandlungen des Insolvenzschuldners angefochten werden können. Auch für die Einhaltung der Insolvenzantragspflicht ist das Datum der Zahlungsunfähigkeit entscheidend. Gemäß Art. L653-8 Abs. 3 franz. HGB kann das Gericht einen Geschäftsführer zum Verbot der Ausübung einer Leitungsfunktion eines Unternehmens als Sanktion seiner Insolvenzverschleppung verurteilen, falls er es bewusst versäumt hat, die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens innerhalb der 45-tägigen Frist ab Zahlungsunfähigkeit zu beantragen. Der Begriff „bewusst“ geht aus einer gesetzlichen Änderung von 2015 hervor, die zu einer Milderung des Anwendungsbereichs dieser Sanktion führen sollte. 

Im konkreten Fall ging es um die Auslegung dieser Bestimmung. Der Insolvenzverwalter beantragte vor dem Insolvenzgericht die Verhängung des Verbots der Unternehmensleitung gegen den Geschäftsführer. Dieser versuchte mit einer engen und wörtlichen Auslegung des Gesetzestextes dahingehend zu argumentieren, dass der Tatbestand des bewussten Versäumnisses einer Antragsstellung lediglich an dem Zeitpunkt des gerichtlich festgelegten Datums der Zahlungsunfähigkeit bemessen werden sollte. Tatsächlich war nicht nachgewiesen, dass die Zahlungsunfähigkeit dem Geschäftsführer bereits am 06.10.2014 bewusst war. Daher könne es ihm nicht vorgeworfen werden, seinen Antrag nicht innerhalb von 45 Tagen ab dem 06.10.2014 gestellt zu haben, so der Geschäftsführer.

Durch Feststellungen des Berufungsgerichts stand allerdings fest, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung dem Geschäftsführer ein Bewusstsein über die eingetretene Zahlungsunfähigkeit von bereits länger als 45 Tagen durch relevante Umstände über die mangelnde Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern sowie offene Gehälter nachgewiesen werden konnte. 

Der Kassationsgerichtshof hat sich zugunsten der weiten Auslegung der gesetzlichen Bestimmung entschieden: Für die Verhängung der Sanktion des Art. L653-8 Abs. 3 franz. HGB ist nicht erforderlich, dass der Geschäftsleiter zum Zeitpunkt des gerichtlich festgesetzten Datums der Zahlungsunfähigkeit Kenntnis über diese hatte und keinen Insolvenzantrag innerhalb von 45 Tagen ab diesem Datum gestellt hat. Vielmehr ist ausreichend, dass zum Zeitpunkt des gestellten Antrags dem Geschäftsleiter eine Kenntnis über die Zahlungsunfähigkeit von über 45 Tagen zugerechnet werden kann – ungeachtet davon, ob diese Kenntnis bereits zum gerichtlich festgesetzten Datum der Zahlungsunfähigkeit vorlag. Dadurch wird die Möglichkeit eröffnet, diesen Tatbestand der Insolvenzverschleppung in allen Fällen des zu spät – oder gar nicht – eingereichten Insolvenzantrags anzuwenden, ohne Berücksichtigung einer Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit bereits zum Zeitpunkt, an welchem sie als eingetreten gilt.  

Durch dieses Urteil wird auch deutlich, dass von konkreten Merkmalen der Zahlungsunfähigkeit, die sachlich festgestellt werden können, auf das „bewusste Versäumnis“ einer Antragstellung rückzuschließen ist. Das Bewusstsein wird aus konkreten Tatsachen abgeleitet. 

IV. Praxishinweis
Bis auf die wenigen Fälle, die den Tatbestand des Bankrotts (banqueroute) nach Art. L654-1 bis L657-7 franz. HGB erfüllen (u.a. das Betreiben nicht marktüblicher Geschäfte in der Absicht, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu verzögern, Veruntreuung, fiktive Buchhaltung) enthält das französische Insolvenzrecht keine weiteren strafrechtlichen Normen, insbesondere keine Strafbarkeit der Verletzung der Antragspflicht nach dem Vorbild des § 15a InsO. Statt der Androhung einer strafrechtlichen Haftung laufen Geschäftsleiter nach französischem Recht Gefahr, dass ihnen die Übernahme der Leitung von Unternehmen für die Zukunft verboten wird.  

Für deutsche Praktiker, die mit der Frage einer eventuellen Insolvenzverschleppung nach französischem Insolvenzrecht konfrontiert sind, kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass das französische Recht – ohne ausdrückliche Bestimmung – den Begriffen der Handlungen „die mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind“ (vgl. § 15b InsO) nahe kommt. Nach dem vorliegenden Urteil des Kassationsgerichtshofs kann festgehalten werden, dass Gerichte konkret zu prüfen haben, ob die Pflicht, Insolvenzantrag spätestens 45 Tage ab Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit zu stellen, mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters eingehalten wurde.

Auch angesichts der zivilrechtlichen Haftung für Zahlungen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit ist das französische Insolvenzrecht weniger streng als das deutsche Recht. Die Haftung für Unterdeckung der Vermögenswerte nach Art. L651-4 bis L651-4 franz. HGB setzt voraus, dass dem Geschäftsleiter ein sog. Geschäftsführungsfehler zugerechnet werden kann. Zahlungen bei kongruenter Deckung nach Insolvenzreife können beispielsweise keine Geschäftsführungsfehler darstellen. Des Weiteren hat der Gesetzgeber 2016 in der Bestimmung des Art. L651-2 die Einschränkung hinzugefügt, dass bei leicht fahrlässig begangenen Geschäftsführungsfehlern die Haftung ausgeschlossen ist.  

Das vorliegende Urteil steht auch im Einklang mit den Zielen der Restrukturierungsrichtlinie (EU) 2019/1023 vom 20.06.2019, die redlichen insolventen Unternehmern eine zweite Chance verschaffen möchte. Nur Geschäftsleiter, die die Antragspflicht nach vernünftigerweise zurechenbarer Kenntnis über die Zahlungsunfähigkeit nicht einhalten, können von der Ausübung des Amtes als Geschäftsleiter für die Zukunft ausgeschlossen werden.  

Ronan Dugué, Avocat und Rechtsanwalt