BGH konkretisiert einstweilige Schutzmaßnahmen bei grenzüberschreitender Vollstreckung

25. Juli 2022 Blog Insolvenzrecht

In der Europäischen Union werden seit 2015 Entscheidungen nationaler Gerichte ohne Exequaturverfahren in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt und vollstreckt. Der Vollstreckungsschuldner wird gleichwohl nicht schutzlos gestellt. Er kann die Versagung der Anerkennung und Vollstreckung sowie den Erlass einstweiliger Schutzmaßnahmen beantragen.

Lesen Sie dazu eine aktuelle Entscheidung des BGH. Wir wünschen eine spannende Lektüre.

Dr. Johannes Heck

Avvocato stabilito (Europäischer Rechtsanwalt, zugelassen in Italien)

Rechtsanwalt

BGH: Voraussetzungen einstweiliger Schutzmaßnahmen nach Antrag auf Versagung einer grenzüberschreitenden Vollstreckung

ZPO § 1115 VI; Brüssel Ia-VO Art. 44 I
BGH, Beschluss vom 02.06.2022 - IX ZB 60/21 (KG)

I. Leitsatz des Verfassers
Im Rahmen der Anordnung einer Schutzmaßnahme nach Art. 44 Abs. 1 Brüssel Ia-VO ist eine Interessenabwägung vorzunehmen, in welche vor allem die Erfolgsaussichten des Versagungsantrags und die dem Schuldner drohenden Schäden auf der einen sowie das Interesse des Gläubigers an einer effektiven grenzüberschreitenden Vollstreckung auf der anderen Seite einzubeziehen sind.

Eine Aussetzung der Vollstreckung nach Art. 44 Abs. 1 lit. c Brüssel Ia-VO kommt nur in Betracht, wenn der Erfolg des Verfahrens sehr wahrscheinlich ist und bedeutende Schuldnerinteressen für eine Aussetzung sprechen.

Haben inländische Vollstreckungsorgane aufgrund einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung Vollstreckungsmaßnahmen im Inland durchgeführt, eröffnet Art. 44 Brüssel Ia-VO dem Schuldner einen ausreichenden vorläufigen Rechtsschutz; für einen zusätzlichen Rückgriff auf einstweilige Anordnungen nach nationalem Recht besteht weder Raum noch Bedürfnis.

II. Sachverhalt
Der Antragsteller mit Wohnsitz in Berlin war seit 2017 Aufsichtsratsmitglied der Antragsgegnerin, einer lettischen Bank, über deren Vermögen in Lettland ein Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. Vor dem Bezirksgericht Riga-Stadt Vidzeme nimmt die Antragsgegnerin, vertreten durch den Insolvenzverwalter, den Antragsteller und weitere Beklagte auf Zahlung von Schadenersatz wegen Verletzung organschaftlicher Pflichten in Anspruch. Mit der Einreichung der Klage hat die Antragsgegnerin zugleich die Anordnung von einstweiligen Sicherungsmaßnahmen in das Vermögen des Antragstellers beantragt. Diesem Antrag hat das Bezirksgericht mit Beschluss vom 21.9.2020 ohne vorherige Anhörung des Antragstellers stattgegeben. Gestützt auf diesen Beschluss hat das Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg auf Antrag der Antragsgegnerin am 8.12.2020 die Pfändung des Ruhegehalts des Antragstellers sowie seiner Ansprüche aus Gesellschaftsanteilen angeordnet.

Erstinstanzlich hat das Landgericht Berlin mit Beschluss vom 4.5.2021 die Anträge auf Versagung der Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung des Bezirksgerichts vom 21.9.2020 und auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen. Die sofortige Beschwerde des Antragstellers hat das Kammergericht mit Beschluss vom 10.12.2021 zurückgewiesen. Im Rahmen der Rechtsbeschwerde hat der Antragsteller zugleich beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung den Pfändungsbeschluss des Amtsgerichts Tempelhof-Kreuzberg vom 8.12.2020 aufzuheben und die Vollstreckung der Entscheidung des Bezirksgerichts bis zu einer endgültigen Entscheidung über den Anerkennungs- und Vollstreckungsversagungsantrag auszusetzen, hilfsweise die Vollstreckung aus der genannten Entscheidung von der Leistung einer vom Gericht zu bestimmenden Sicherheit abhängig zu machen.

III. Rechtliche Wertung
Der Senat hat den auf § 1115 Abs. 6 ZPO, Art. 44 Abs. 1 Brüssel Ia-VO gestützten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Es falle in das Entschließungsermessen des angerufenen Gerichts, ob es eine Schutzmaßnahme anordnet. In die Interessenabwägung seien die Erfolgsaussichten des Versagungsantrags, die drohenden Schäden des Schuldners sowie das Vollstreckungsinteresse des Gläubigers einzustellen, wobei den Schuldner die Darlegungslast treffe. Im Rahmen des richterlichen Auswahlermessens sei zu beachten, dass die Beschränkung des Vollstreckungsverfahrens auf Sicherungsmaßnahmen (Art. 44 Abs. 1 lit. a Brüssel Ia-VO) und die Anordnung einer Sicherheitsleistung des Gläubigers (lit. b) auch dann in Betracht kommen, wenn der Ausgang des Verfahrens auf Versagung der Anerkennung und Vollstreckung offen ist. Eine vollständige oder teilweise Aussetzung der Vollstreckung (lit. c) sei hingegen nur geboten, wenn der Erfolg des Verfahrens sehr wahrscheinlich ist und bedeutende Schuldnerinteressen für eine Aussetzung sprechen.

Vorliegend seien die Erfolgsaussichten des anhängigen Rechtsbeschwerdeverfahrens noch offen. Zudem habe der Schuldner keine konkret drohenden Schäden infolge der weiteren Pfändung darzulegen vermocht. Daneben entspreche die mit Beschluss des Amtsgerichts Tempelhof-Kreuzberg vom 8.12.2020 angeordnete Forderungspfändung als eine auf Sicherung gerichtete Maßnahme in ihrem rechtlichen Charakter bereits der „Schutzmaßnahme“ i.S.v. Art. 44 Abs. 1 lit. a Brüssel Ia-VO.

Eine einstweilige Anordnung könne auch nicht nach § 769 ZPO erfolgen, auf den sich der Antragsteller zugleich berufen hat. Der nationalen Vorschrift komme kein eigenständiger Anwendungsbereich zu, da im Rahmen der Entscheidung nach Art. 44 Brüssel Ia-VO bereits alle relevanten Umstände zu berücksichtigen sind.

IV. Praxishinweis
Die Vorschrift des Art. 44 Brüssel Ia-VO ist Ausfluss des Prinzips der unmittelbaren Vollstreckung ohne Exequatur. Da der Antrag auf Vollstreckungsversagung nach Art. 46 ff. Brüssel Ia-VO keinen automatischen und vollständigen Suspensiveffekt hat, soll dem Vollstreckungsschuldner mit den einstweiligen Schutzmaßnahmen nach Art. 44 Abs. 1 Brüssel Ia-VO im laufenden Versagungsverfahren eine angepasste und abgestufte Reaktion im Einzelfall ermöglicht werden (vgl. ErwG 31 Brüssel Ia-VO).

Mit der soweit ersichtlich ersten höchstrichterlichen Entscheidung zu Art. 44 Abs. 1 Brüssel Ia-VO hat der Senat die Anwendungsvoraussetzungen der Norm für die Praxis eindeutiger vorgegeben. Neben den Grundsätzen der Interessenabwägung im Rahmen des Entschließungsermessens sind insbesondere die Ausführungen zum Auswahlermessen auf Rechtsfolgenseite hervorzuheben. Der Senat schließt sich hierbei der vorherrschenden Auffassung im Schrifttum an und sieht in Abs. 1 ein Stufenverhältnis. Die vollständige oder teilweise Aussetzung der Vollstreckung (lit. c) sei hiernach ultima ratio (aA wohl Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, 5. Aufl. 2021, Art. 44 Brüssel Ia-VO Rn. 35, 52 f).

Rechtsanwalt Dr. Johannes Heck, Avvocato stabilito (Europäischer Rechtsanwalt, zugelassen in Italien)