Insolvenzanträge in England nach dem Brexit sperren keine Entscheidungen deutscher Gerichte über eine Insolvenzeröffnung

23. Februar 2023 Newsletter Restrukturierung und Sanierung

Grundsätzlich „sperrt“ eine Insolvenzantragstellung in einem andern EU Mitgliedstaat spätere Entscheidungen über die Insolvenzeröffnung in einem anderen Mitgliedstaat. Wie sieht es insoweit im Verhältnis zu dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit aus?

Lesen Sie dazu eine aktuelle Entscheidung des BGH.

BGH: Brexit aus der Sperrwirkung

EuInsVO Art. 3 Abs. 1, § 343 InsO
BGH, Beschluss vom 8.12.2022 — IX ZB 72/19 (Galapagos)

I. Leitsatz der Verfasserin
Die Insolvenzantragstellung in einem Drittstaat entfaltet keine Sperrwirkung gemäß § 343 InsO.

II. Sachverhalt
Der satzungsmäßige Sitz der Schuldnerin lag in Luxemburg. Diese verlegte ihren tatsächlichen Verwaltungssitz im Juni 2019 nach England. Dort beantragten die Direktoren am 22.8.2019 die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens. Gläubiger stellten am 6.9.2019 einen weiteren Insolvenzantrag bei dem AG Düsseldorf. Das AG nahm seine internationale Zuständigkeit an, ordnete Sicherungsmaßnahmen an und bestellte einen vorläufigen Insolvenzverwalter. Dagegen richtet sich die Tochtergesellschaft mit einer sofortigen Beschwerde und Rechtsbeschwerde und rügt, der Verwaltungssitz sei in England.

Nach Vorabentscheidungsvorlage (BGH, Beschl. v. 17.12.2020 – IX ZB 72/19) hatte der EuGH (mit Urt. v. 24.3.2022 – C-723/20) entschieden, dass nach Antragstellung in einem Mitgliedstaat die Gerichte eines anderen Mitgliedstaates bei Verlegung des COMI nach Antragstellung und vor Eröffnung bis zur Entscheidung des zuerst angerufenen gesperrt sind, über die Eröffnung eines Hauptverfahrens zu entscheiden.

Allerdings blieb offen, wie nach deutschem Recht zu beurteilen ist, wenn die Entscheidung nach dem Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU (31.12.2020) fällt. Demzufolge musste das Gericht in Düsseldorf auf die Entscheidung des High Courts warten und berücksichtigen, bei dem der Antrag zunächst eingereicht war.

Demgemäß konnte der BGH nun befinden.

III. Rechtliche Wertung
Der EuGH hatte bereits festgestellt, dass die EuInsVO und die Sperrwirkung aus Art. 3 nur dann anwendbar ist, wenn das Hauptinsolvenzverfahren bei dem englischen High Court gemäß Art. 67 Abs. 3c des Austrittsabkommens des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union vor dem Ablauf des Übergangzeitraums (am 31.12.2020) eröffnet worden ist. Sollte dies nicht so sein, wäre ein Gericht in einem anderen Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sich der COMI (nunmehr) befindet, nicht mehr gesperrt, sich zuständig zu erklären, ein solches Verfahren zu eröffnen.

Der COMI war vor Antragstellung rechtzeitig nach Düsseldorf nach den Maßstäben des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO für Dritte hinreichend erkennbar verlagert worden. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte sei nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 EuInsVO gegeben und perpetuierend. Die winding-up order des High Courts in London vom 30.6.2022 kam insoweit zu spät.

Denn die Sperrwirkung des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO, die Insolvenzanträge nach der Rechtsprechung des EuGH auslösen, ist mit Ablauf des 31.12.2020 – dem Ende des Übergangszeitraumes und Vollzug des Brexit – gemäß Art. 67 Abs. 3c des Austrittsabkommens entfallen.

Vielmehr steht der Insolvenzantrag im Vereinigten Königreich der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach §§ 335 ff. InsO nicht entgegen. Das deutsche autonome internationale Insolvenzrecht enthält keine Vorschriften über den Umgang mit mehreren Anträgen. Selbst wenn aus § 343 InsO folge, dass die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens in einem Drittstaat die Eröffnung eines solchen in Deutschland hindern könnte, ist nicht geregelt, dass ein solcher Insolvenzantrag, der nicht als Eröffnung zu qualifizieren ist, die Eröffnung eines deutschen Hauptverfahrens hindern würde.

Demzufolge hat der Senat entschieden, dass die Eröffnung vor international zuständigen deutschen Gerichten der späteren Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens auch dann vorgeht, wenn der Antrag vorher gestellt war und die Eröffnung an sich nach § 343 InsO anerkennungsfähig wäre.

Zwar sei maßgeblicher Zeitpunkt für die Bestimmung der Zuständigkeit der des Antrages und die deutschen Gerichte blieben dann auch nach dem Grundsatz der perpetuatio fori zuständig. Allerdings meint der Senat, dass es letztlich genüge, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Eröffnung die Zuständigkeit begründet sei – selbst in der Rechtsmittelinstanz. Es bestehe ein Ausschließlichkeitsanspruch deutscher Insolvenzverfahren, deren Eröffnung vor der eines ausländischen Verfahrens erfolgt. Dies beruhe auf § 3 InsO.

Der BGH begründet die ausdrückliche Unterschiedlichkeit der deutsch-autonomen zur deutsch-europäischen Rechtslage mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Nur aus diesem Grundsatz folge die Sperrwirkung aufgrund des Antrages innerhalb der EU. Mangels vereinheitlichter Zuständigkeits- und Kollisionsnormen könnte dieser Grundsatz im Verhältnis zu Drittstaaten nicht gelten, weshalb § 343 InsO explizit eine Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit voraussetze.

Aus Sicht des § 343 InsO sei der Antrag vor dem High Court, der nicht als Eröffnung qualifiziert werden könne und der deutschen Eröffnung vorging, demnach irrelevant.

IV. Praxishinweis
Der BGH hat hier zum ersten Mal eine klare Linie zwischen den Vorschriften der EuInsVO und dem autonomen deutschen Insolvenzrecht der §§ 335 ff. InsO gezogen, in dem er sagt: Sperrwirkung nach Antrag gibt es nur auf europäischer Bühne, nicht aber im Verhältnis zu Drittstaaten. Mit dem Brexit entfiel die Sperrwirkung des Antrags in England. Somit konnten die deutschen Gerichte vorbeiziehen.

Bislang hatte der BGH mit Verweis auf die Gesetzesbegründung zu den §§ 335 ff. (BT-Drucks. 15/16, S. 18) durchaus festgestellt, dass zur Interpretation der §§ 335 ff. InsO die EuInsVO herangezogen werden könne (BGH Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 63/16). Diese pauschale Aussage kann nun so nicht mehr stehen bleiben, zumindest wenn es um Regelungen geht, die auf dem Vertrauensverhältnis in andere Rechtsordnungen und Gerichtssysteme fußen.

Der Verweis auf die explizite Nachprüfung der Zuständigkeit nach § 343 InsO schießt allerdings über den Gesetzwortlaut hinaus. Denn § 343 InsO geht ebenso von einer automatischen Anerkennung aus – unter dem Vorbehalt, dass das eröffnende Gericht zuständig im Sinne von § 3 InsO ist. Eine ausdrückliche Anerkennungsentscheidung ist von § 343 InsO aber gerade nicht vorgesehen. Die Prüfung erfolgt allenfalls inzident.

Separat dazu ist der Hinweis relevant, dass die Befugnis nach Art. 5 Abs. 1 EuInsVO zur Anfechtung der Eröffnungsentscheidung nicht nur Gläubigern aus EU-Mitgliedstaaten zusteht, sondern allen.

Rechtsanwältin Dr. Annerose Tashiro, Registered Foreign Lawyer (SRA)