Die Gesamtwürdigung des Zahlungsverhaltens kann den Schluss auf einen Benachteiligungsvorsatz iSd § 133 InsO zulassen

28. Juli 2022 Newsletter Restrukturierung und Sanierung

Die subjektiven Elemente der Insolvenzanfechtungstatbestände bedürfen regelmäßig des Nachweises durch Indizien. Dort ist derzeit vieles im Fluss. Mit der Indizwirkung verschiedener Umstände befasst sich die aktuelle Entscheidung des BGH.

Wir wünschen eine spannende Lektüre.

Karsten Kiesel
Karsten Kiesel

Rechtsanwalt

Indizwirkungen des Zahlungsverhaltens gegenüber Sozialversicherungsträgern im Rahmen der Vorsatzanfechtung

InsO §§ 133 I, 17 II S. 2
BGH, Urteil vom 28.04.2022 - lX ZR 48/21 (OLG Zweibrücken)

I. Leitsatz des Verfassers
Ob das Zahlungsverhalten des zahlungsunfähigen Schuldners gegenüber einem Sozialversicherungsträger den Schluss rechtfertigt, dass er mindestens billigend in Kauf nahm, seine Gläubiger auch künftig nicht vollständig befriedigen zu können, richtet sich nach der Gesamtwürdigung, insbesondere der Dauer des Rückstands für einzelne Beitragsmonate, des Zeitraums, in dem rückständige Beiträge auftreten, und der Entwicklung der rückständigen Beiträge.

Bestehen zum Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung erhebliche und bis zur Insolvenzeröffnung durchgehend fällige Verbindlichkeiten, kann deren Art, Höhe, Anzahl und Bedeutung den Schluss zulassen, dass der Schuldner mindestens billigend in Kauf nahm, diese Verbindlichkeiten nicht mehr vollständig befriedigen zu können.

Die Zahlungseinstellung kann aus einem einzigen Indiz mit hinreichender Aussagekraft gefolgert werden. Fehlt es an einem hinreichend aussagekräftigen Einzelindiz, kommt der Schluss auf eine Zahlungseinstellung nur in Betracht, wenn die Gesamtheit der Indizien die volle richterliche Überzeugung einer Zahlungseinstellung rechtfertigt.

Zahlt der Schuldner Sozialversicherungsbeiträge stets vollständig, aber im Wesentlichen gleichbleibend durchgängig um einen bis weniger als zwei Monate verspätet, stellt dies für sich genommen kein ausreichendes Indiz dar, um eine Zahlungseinstellung zu begründen.

II. Sachverhalt
Die im Baubereich für die öffentliche Hand tätige Schuldnerin hatte an die Beklagte Sozialversicherungsbeiträge zwischen rd. 9.000 EUR und rd. 22.0000 EUR zu zahlen. Die Zahlungen für die Monate Januar 2013 bis November 2016 erfolgten mit Verzögerungen von bis zu 54 Tagen, letztendlich aber immer vollständig mit Zinsen und Mahngebühren. Der Insolvenzverwalter macht die Anfechtbarkeit von Zahlungen in Höhe von insgesamt rd. 771.000 EUR geltend.

Das Landgericht wies die Anfechtungsklage des Insolvenzverwalters ab. Das Oberlandesgericht gab ihr statt. Die Revision führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung.

III. Rechtliche Wertung
Der Senat führt aus, dass bereits die Feststellungen des Berufungsgerichts zum Zeitpunkt der Zahlungsunfähigkeit vor der ersten streitgegenständlichen Zahlung verfahrensfehlerhaft erfolgt seien. Das einfache Bestreiten der Beklagten sei im Hinblick auf die behauptete Deckungslücke und den vorgelegten Finanzstatus, der keine Einzelheiten enthalte, ausreichend.

Schleppende Zahlungsweise gegenüber Sozialversicherungsträgern ist noch keine Zahlungseinstellung

Aus den zum Zahlungsverhalten vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen könne eine Zahlungseinstellung nicht angenommen werden. Zwar könne die Zahlungseinstellung aus einem einzelnen Indiz mit hinreichender Aussagekraft gefolgert werden. Zahlungsverzögerungen von weniger als zwei Monaten reichten auch bei wiederholtem Auftreten gegenüber Sozialversicherungsträgern nicht für eine Zahlungseinstellung. Weitere Umstände, die mit hinreichender Gewissheit für eine fehlende Liquidität sprechen, müssten hinzutreten.

Benachteiligungsvorsatz bei Zahlungen auf Rückstände an Sozialversicherungsträger

Im Hinblick auf den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners könne auch bei häufig vorrangig bedienten Zahlungen an Sozialversicherungsträger aus einer vom Schuldner erkannten Zahlungsunfähigkeit alleine nicht darauf geschlossen werden, dass dieser billigend in Kauf nehme, seine übrigen Gläubiger auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vollständig befriedigen zu können. Es komme vielmehr auf Art, Höhe, Anzahl und Bedeutung der Verbindlichkeiten an. Aus Verzögerungen zwischen vier und acht Wochen ohne ein Ansteigen der Rückstände könne nicht auf einen Benachteiligungsvorsatz geschlossen werden.

IV. Praxishinweis
Die Entscheidung ist ein weiterer Baustein bei der „Neujustierung“ der BGH-Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung und enthält in den Randnummern 12 bis 15 eine Art „Zusammenfassung“. Von besonderer Bedeutung ist das Urteil für die Sozialversicherungsträger und den Fiskus. Aufgrund von Besonderheiten wie der (teilweisen) Strafbewehrtheit bei Nichtabführung und vereinfachter Vollstreckungsmöglichkeiten gelten Zahlungen auf rückständige Abgabenforderungen als besonders anfechtungsgefährdet. Ein im Wesentlichen gleichbleibendes, aber dauerhaft schleppendes Zahlungsverhalten alleine soll nun auch bei Abgabenforderungen nicht auf eine Zahlungseinstellung schließen lassen, zumindest wenn die Verspätung weniger als zwei Monate beträgt.

Rechtsanwalt Karsten Kiesel