Unterschrittener Schwellenwert – Schwerbehindertenvertretung bleibt trotzdem im Amt

20. März 2023 Newsletter Insolvenzrecht

Die Interessenvertretung der schwerbehinderten und gleichgestellten Beschäftigten wird für regelmäßig vier Jahre gewählt. Maßgeblich ist die Anzahl von fünf Beschäftigten zu Beginn der Amtszeit. Weder aus gesetzessystematischen Gründen noch im Hinblick auf Sinn und Zweck des Schwellenwerts folgt ein Erlöschen des Mandats; dieses entsteht unabhängig prognostischer Zufälligkeiten und zukünftigen Entwicklungen.

Joachim Zobel
Joachim Zobel

Rechtsanwalt

Fachanwalt für Arbeitsrecht

BAG: Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung

BAG, Beschluss vom 19.10.2022 – 7 ABR 27/21 (LAG Köln)

I. Leitsatz des Verfassers
Das Amt der Schwerbehindertenvertretung endet nicht vorzeitig, wenn die für ihre Wahl notwendige Mindestanzahl von fünf nicht nur vorübergehend beschäftigten schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb oder in der Dienststelle während der Amtszeit unterschritten wird.

II. Sachverhalt
Die Beteiligten streiten darüber, ob das Amt der antragstellenden Schwerbehindertenvertretung (SBV) vorzeitig geendet hat. Die Arbeitgeberin unterhält zwei Betriebe, in denen jeweils eine SBV gebildet wurde. In einem der Betriebe sank die Zahl der beschäftigten schwerbehinderten und ihnen gleichgestellten Menschen von fünf auf vier. Daraufhin teilte die Arbeitgeberin der dort gewählten SBV mit, dass diese aus ihrer Sicht nicht mehr existiere und die Interessen der schwerbehinderten Beschäftigten von der in dem anderen Betrieb errichteten SBV wahrgenommen würden.

Die SBV vertrat die Auffassung, ihr Mandat bestehe für die Dauer der gesetzlich geregelten Amtszeit von vier Jahren. Der darauf gerichtete Feststellungsantrag wurde vom ArbG abgewiesen. Das LAG hat die hiergegen gerichtete Beschwerde zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgte die SBV ihr Begehren weiter.

III. Rechtliche Wertung
Die Rechtsbeschwerde sei begründet. Die SBV sei im Amt. Gemäß § 177 Abs. 7 S. 3 SGB IX erlösche das Amt vorzeitig, wenn die Vertrauensperson es niederlege, aus dem Arbeits- bzw. Dienstverhältnis ausscheide oder die Wählbarkeit verliere. Sinke die Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter unter die erforderliche Mindestzahl des § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, ende das Mandat der gewählten SBV nicht vorzeitig. Dies sei weder im Wortlaut von § 177 Abs. 1 S. 1, Abs. 7 S.1 S. 3 SGB IX angelegt noch ergebe es sich aus den systematischen Erwägungen.

Weder im § 177 Abs. 1 SGB IX noch in den Vorschriften, in denen zur Amtszeit (§ 177 Abs. 7 Satz 1 SGB IX) und zu den Tatbeständen eines vorzeitigen Erlöschens des Amts der Vertrauensperson (§ 177 Abs. 7 Satz 3 SGB IX) fänden sich Anhaltspunkte dafür, dass der Schwellenwert von „wenigstens fünf schwerbehinderten Menschen“ die gesamte Amtszeit der SBV erreicht sein müsste.

Der Schwellenwert des § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX knüpfe nicht an die „in der Regel“ beschäftigte Anzahl schwerbehinderter Menschen an mit der Folge, dass maßgeblich nicht die den Betrieb allgemein kennzeichnende Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter sei. Vielmehr knüpfe er an die nicht nur vorübergehend beschäftigten schwerbehinderten Menschen. Für die Errichtungsfähigkeit einer SBV sei demnach nicht die Größe der Organisationseinheit „an sich“ entscheidend, sondern die Größe einer Beschäftigtengruppe. Entsprechend sei keine rückblickende Betrachtung und prognostische Einschätzung veranlasst.

Die Argumentation des LAG, der für den Betriebsrat geltende Grundsatz, dass dessen Amt bei einem Unterschreiten des Schwellenwerts von § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ende, sei auf die SBV wegen des Gebots eines Gleichlaufs der beiden Institutionen zu übertragen, verkenne verschiedene Regelungskonzepte des BetrVG und des Teil 3. Kapitel 5 SGB IX.

Der Betriebsrat sei ein Gremium, dessen Mitgliederzahl von der Größe des Betriebs abhänge. Demgegenüber sei die besondere Vertretung schwerbehinderter Beschäftigter unabhängig von deren Anzahl und der Betriebs-/Dienststellengröße als sog. Ein-Personen-Vertretung konzipiert.

IV. Praxishinweis
Die SBV ist sowohl außerhalb als auch innerhalb des Insolvenzverfahrens umfassend in die Planung und Umsetzung der Personalmaßnahmen einzubeziehen.

Insbesondere ist die SBV gemäß § 178 Abs. 2 S. 3, S. 1 SGB IX vor Ausspruch jeder Kündigung eines schwerbehinderten oder eines schwerbehinderten Menschen gleichgestellten Arbeitnehmers zu beteiligen. Dies gilt – abweichend von der Beteiligung des Integrationsamtes nach § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB IX - auch während der 6-monatigen Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG (BAG 13.12.2018 – 2 AZR 378/13 = NZA 2019, 305).

Die Beteiligung der SBV erstreckt sich hierbei auf die unverzügliche und umfassende Unterrichtung und Anhörung (§ 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX) und richtet sich nach den Prinzipien der Anhörung des Betriebsrates (BR) gem. § 102 BetrVG. Da es sich bei BR und SBV um zwei unterschiedliche Vertretungsorgane handelt, ist zu empfehlen, die Gremien jeweils separat zu unterrichten und anzuhören. Das Bestehen einer SBV ist nicht vom Bestehen eines BR abhängig.

Sofern ein Mitglied der SVB entlassen werden soll, ist der besondere Kündigungsschutz des § 179 Abs. 3 SGB IX zu beachten, welcher den Mitgliedern der SBV den selben Kündigungsschutz einräumt, der gem. § 15 KSchG iVm. § 103 BetrVG für Mitglieder des BR gilt (Zustimmung des BR zur Kündigung).

Auch im Rahmen von Interessenausgleichsverhandlungen ist die SBV zu beteiligen, um die Wirkung des § 172 Abs. 3 SGB IX hervorzurufen und das Ermessen des Integrationsamtes bei seiner Entscheidung über die Zustimmung zur Kündigung „auf Null zu reduzieren“.

Keine Beteiligung erfährt die SBV hingegen im Rahmen des Konsultationsverfahrens nach § 17 KSchG. Die Rechte sämtlicher Arbeitnehmer (auch schwerbehinderter) sind hier durch den BR ausreichend gewahrt.

Sofern im Betrieb der Insolvenzschuldnerin schwerbehinderte oder schwerbehinderten Menschen gleichgestellte Arbeitnehmer vorhanden sind, ist demnach zwingend zu erfragen, ob eine SBV besteht oder in der Vergangenheit bestanden hat, um im Zweifel die Beteiligungsrechte wahren zu können. Sofern „dauerkranke“ Arbeitnehmer vorhanden sind, ist bei den einzelnen Arbeitnehmern zudem abzufragen, ob ihrerseits ein Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung gestellt wurde. Die Feststellung der zuständigen Behörde wirkt grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Antragstellung zurück, so dass auch für diese Arbeitnehmer die Beteiligungsrechte zu wahren sind.

Rechtsanwalt Joachim Zobel, Fachanwalt für Arbeitsrecht