Massenentlassung, Schwellenwerte – auf den Zeitpunkt kommt es an

27. Juni 2022 Newsletter Insolvenzrecht

Unter Berücksichtigung des Schutzzwecks der MERL und des gesetzgeberischen Willens, die Arbeitsagentur bei Entlassungen frühzeitig einzubinden, verbietet sich bei (etappenweisen) Stilllegungen eine punktuelle, insbesondere rein datumsmäßige Ermittlungen der „in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer“ (§ 17 Abs. 1 KSchG).

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Joachim Zobel
Joachim Zobel

Rechtsanwalt

Fachanwalt für Arbeitsrecht

LAG Hamburg: Zeitpunkt der Feststellung von Beschäftigtenzahl bei Entlassung

KSchG § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
LAG Hamburg, Urteil vom 03.02.2022 – 3 Sa 16/21 (ArbG Hamburg)

I. Leitsatz des Verfassers
Für die Feststellung, ob es sich um einen Betrieb mit in der Regel mehr als 20 Arbeitnehmern i.S.v. § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG handelt, kommt es nicht auf die Anzahl der im konkreten Zeitpunkt der Entlassung beschäftigten Arbeitnehmer an, sondern auf die „normale“ Beschäftigtenzahl des Betriebes, das heißt auf diejenige Personalstärke, die für den Betrieb im Allgemeinen, also bei regelmäßigem Gang des Betriebes, kennzeichnend ist. Hierzu ist grundsätzlich ein Rückblick auf die bisherige personelle Stärke des Betriebs und eine Einschätzung der zukünftigen Entwicklung erforderlich. Im Falle einer beabsichtigten Betriebsstilllegung kommt allerdings nur ein Rückblick auf die bisherige Belegschaftsstärke in Betracht.

Bei einem sukzessiven Vorgehen des Arbeitgebers mit mehreren Entlassungswellen ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem zuletzt noch eine normale Betriebstätigkeit entfaltet wurde. Etwas anderes gilt lediglich, wenn mehreren aufeinanderfolgenden Personalreduzierungsmaßnahmen kein einheitlicher Stilllegungsentschluss zugrunde liegt, sondern der Betrieb zunächst mit reduzierter Belegschaftsstärke fortgeführt wird, sich die Belegschaftsstärke auf niedrigerem Niveau stabilisiert und daraufhin diese zur normalen, den Betrieb kennzeichnenden Belegschaftsstärke wird.

Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens führt allein nicht dazu, dass die tatsächliche Mitarbeiterzahl bei Eröffnung als (neue) regelmäßige Beschäftigtenzahl maßgeblich wird. Stellt sich eine durch den Insolvenzverwalter ausgesprochene Kündigung als Weiterführung einer durch die Arbeitgeberin bereits eingeleiteten Betriebsstilllegung dar, kommt es auf die regelmäßige Beschäftigtenzahl vor Insolvenzverfahrenseröffnung an.

II. Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Beendigung eines bestehenden Arbeitsverhältnisses. Die Arbeitgeberin (AG) beschäftigte 25 Mitarbeiter bis September 2020. Einige der Mitarbeiter befanden sich pandemiebedingt seit Monaten in Kurzarbeit. Am 29.9.2020 ordnete das AG Hamburg die vorläufige Insolvenzverwaltung an und bestellte den Beklagten zum vorläufigen Insolvenzverwalter. Mit einem Rundschreiben vom 9.11.2020 informierte der Beklagte als vorläufiger Insolvenzverwalter die Mitarbeiter der AG über die wirtschaftliche Situation nach Insolvenzantragsstellung und kündigte an, für den Fall, dass er keinen Interessenten für eine Betriebsfortführung gewinnen könne, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens allen Mitarbeitern mit der abgekürzten Kündigungsfrist des § 113 InsO zu kündigen.

Am 1.12.2020 wurde durch Beschluss des AG Hamburg das Insolvenzverfahren über das Vermögen der AG eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt.

Mit Schreiben vom 2.12.2020 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger „aus betriebsbedingten Gründen gem. § 113 InsO“ zum 31.3.2021. Eine Sozialauswahl führte der Beklagte nicht durch.

Eine Massenentlassungsanzeige (MEA) gem. § 17 KSchG bei der Agentur für Arbeit (AfA) wurde nicht erstattet.

Mit seiner Klage beim ArbG Hamburg wendete sich der Kläger gegen die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses. Das Gericht gab der Klage statt. Gegen dieses Urteil legte der Beklagte beim LAG Hamburg Berufung ein.

III. Rechtliche Wertung
Die Berufung des Beklagten sei unbegründet. Die Kündigung sei unwirksam gem. § 134 BGB i.V.m. § 17 Abs. 1 KSchG, weil es an der erforderlichen MEA fehle.

Gem. § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG sei ein AG verpflichtet, der AfA die beabsichtigten Entlassungen der AN anzuzeigen, wenn in einem Betrieb mit idR mehr als 20 und weniger als 60 AN mehr als 5 AN innerhalb von 30 Kalendertagen entlassen werden. Sei bei Zugang der Kündigung die nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche MEA nicht erstattet, habe dies die Nichtigkeit der Kündigung gem. § 134 BGB zur Folge. Bei dem Betrieb der AG handele es sich zum maßgeblichen Zeitpunkt des Zugangs der streitgegenständlichen Kündigung um einen Betrieb mit idR mehr als 20 AN iSv § 17 Abs. 1 Nr. 1 KSchG. Dabei komme es für den Schwellenwert nicht auf die Anzahl der im konkreten Zeitpunkt der Entlassung beschäftigten AN an. Maßgeblich ist die „normale“ Beschäftigtenzahl des Betriebes, d.h. diejenige Personalstärke, die für den Betrieb bei regelmäßigem Gang des Betriebes kennzeichnend ist. Hierzu sei ein Rückblick auf die bisherige personelle Stärke des Betriebs und eine Einschätzung der zukünftigen Entwicklung erforderlich. Im Falle einer Betriebsstilllegung sei eine Vorausschau nicht möglich, so dass es nur ein Rückblick auf die bisherige Belegschaftsstärke in Betracht komme.

Bei einem sukzessiven Vorgehen des AG mit mehreren Entlassungswellen sei der Zeitpunkt maßgeblich, in dem zuletzt noch eine normale Betriebstätigkeit entfaltet wurde.

Liege mehreren aufeinanderfolgenden Personalreduzierungsmaßnahmen kein einheitlicher Stilllegungsentschluss zugrunde, sondern der Betrieb zunächst mit reduzierter Belegschaftsstärke fortgeführt werde, so dass sich Belegschaftsstärke auf niedrigerem Niveau stabilisiere, werde diese zur normalen, den Betrieb kennzeichnenden Belegschaftsstärke.

Der Beklagte verkenne, dass für die Anzahl der regelmäßig Beschäftigten weder auf die tatsächlich Beschäftigten zum Kündigungszeitpunkt noch auf die tatsächliche Beschäftigtenzahl in einem 30 Tages-Zeitraum vor bzw. nach dem Kündigungsausspruch abzustellen sei. Vielmehr sei die Personalstärke ausschlaggebend, die für den Betrieb im Allgemeinen kennzeichnend sei. Es seien auch nicht in Kurzarbeit befindliche Mitarbeiter herauszunehmen. Ebenso wenig ist wg. der zwischenzeitlichen Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf die Mitarbeiterzahl bei Eröffnung als regelmäßige Beschäftigtenzahl abzustellen.

Der Bestand der Arbeitsverhältnisse werde durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt. Der Insolvenzverwalter, der in die Arbeitgeberstellung des Schuldners eintritt, sei an die Rechtslage gebunden, die zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung bestehe. Nicht allein wg. der Eröffnung des Insolvenzverfahrens werde die Zahl der zu diesem Zeitpunkt (zufällig) tatsächlich Beschäftigten die neue regelmäßige Beschäftigtenzahl.

IV. Praxishinweis
Ob eine massenentlassungspflichtige Entlassung vorliegt ist anhand der in § 17 KSchG festgelegten Schwellenwerte zu prüfen.

Maßgeblich iSd MERL ist die Einheit, der die von Entlassungen betroffenen AN zur Erfüllung ihrer Aufgaben angehören (MERL Betriebsbegriff). Im Falle einer Betriebsstilllegung wird die Anzahl der idR beschäftigten AN weder datumsbezogen noch bezogen auf den Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung, noch auf Basis einer zukunftsbezogenen Prognose durchgeführt. Bei Entlassungen im Zusammenhang mit einer Betriebsstilllegung kommt nur die rückblickende Betrachtung in Frage. Abzustellen ist auf die Personalstärke, die im Zeitpunkt der letzten normalen Betriebstätigkeit vorhanden gewesen ist.

Dem Insolvenzverwalter ist anzuraten, sich aus Rechtssicherheitsgründen nicht darauf einzulassen, einen sukzessiven Stellenabbau zu berücksichtigen, weil dies die Gefahr beinhaltet, dass ein behauptetes nicht einheitliches Stilllegungskonzept die MEA sowie die Konsultationspflicht unterläuft und damit der Schwellenwert unrichtig festgelegt wird. Konsequenz ist die Rechtsfolge des § 134 BGB.

Bei Unternehmen mit mehreren Betrieben ist für jede Einheit iSd MERL die Massenentlassungspflicht zu prüfen. Eine einmal für die Erstattung der MEA eines Betriebes bestehende örtliche Zuständigkeit der AfA bleibt auch in Fällen der Stilllegung für gegebenenfalls erforderliche weitere Kündigungen (auch Nachkündigungen) bestehen.

Nur in dem Fall, dass AN nach der Stilllegungsentscheidung einer neuen betrieblichen Einheit iSd MERL zugeordnet werden (z.B. einer Ausproduktions- oder Abwicklungseinheit), kann eine neue örtliche Zuständigkeit der AfA begründet werden (vgl. LAG Berlin-Brandenburg 9.12.2021 – 5 Sa 981/21; Revision anhängig: BAG 6 AZR 16/22 bzgl. der Erwägungen zur [örtlichen] Zuständigkeit der AfA).

Rechtsanwalt Joachim Zobel, Fachanwalt für Arbeitsrecht