Keine Änderung des Gläubigergleichbehandlungsgrundsatzes durch teilweise Erfüllung einer Insolvenzforderung

15. Mai 2023 Newsletter Insolvenzrecht

 

Nicht selten wird nur ein Teil der Insolvenzforderung des Gläubigers erfüllt. Der BGH hat sich nunmehr der Frage angenommen, inwiefern der Gläubiger durch die Teilerfüllung auf die vollständige Befriedigung seiner Insolvenzforderung vertrauen darf.

BGH: Erwartung der vollständigen Befriedigung nach Teilerfüllung einer Insolvenzforderung verdrängt nicht den Gläubigergleichbehandlungsgrundsatz

InsO § 1, BGB § 242
BGH, Urteil vom 09.03.2023 - IX ZR 150/21 (LG Frankfurt)

I. Leitsatz der Verfasserin
Die allein auf die teilweise Erfüllung gestützte Erwartung, der Insolvenzverwalter werde auch die restliche Insolvenzforderung vollständig befriedigen, genügt nicht, um den das Insolvenzrecht beherrschenden Gleichbehandlungsgrundsatz hinter die Individualinteressen einzelner Gläubiger zurücktreten zu lassen.

II. Sachverhalt
Der Kläger hatte im April 2019 bei dem beklagten Luftfahrtunternehmen einen Hin- und Rückflug für die Flugstrecke Frankfurt-Kapstadt für März 2020 gebucht. Im Dezember 2019 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten eröffnet und Eigen­verwaltung angeordnet. Die Beklagte setzte den Flugbetrieb danach fort. Während der Hinflug Anfang März 2020 stattfinden konnte, wurde der eigentlich für den 22.3.2020 geplante Rückflug aufgrund der Corona-Pandemie von der Beklagten annulliert.

Im November 2020 wurde sodann das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten nach Zustandekommen eines Insolvenzplanes aufgehoben.

Der Kläger begehrte mit seiner Klage die Erstattung des Kostenteils des Flugscheines nebst Zinsen, welcher auf den Rückflug entfiel.

Nach antragsgemäßer Verurteilung der Beklagten durch das Erstgericht hat das Landgericht in der Berufung die Klage abgewiesen. Der Neunte Zivilsenat des BGH hat die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts zurückgewiesen.

III. Rechtliche Wertung
Der Anspruch des Klägers richte sich nach Art. 5 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 8 Abs. 1 lit. a der Fluggastrechte-VO. Gemäß Art. 5 Fluggastrechte-VO werden den betroffenen Fluggästen bei Annullierung eines Fluges vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Art. 8 Fluggastrechte-VO angeboten, darunter gemäß Art. 8 Abs. 1 lit. a Fluggastrechte-VO die vollständige Erstattung der Flugscheinkosten.

Der BGH bestätigte zunächst seine aktuelle Rechtsprechung (BGH, Urt. v. 5.5.2022 - IX ZR 140/21), nachdem sich entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts Insolvenzforderungen, die nicht auf Geld gerichtet seien, erst mit der Feststellung zur Tabelle in eine Geldforderung wandeln und nicht bereits mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Der Erstattungsanspruch wegen der Annullierung eines bereits bezahlten Fluges, welche zeitlich nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Luftfahrtunternehmens erfolge, stelle grundsätzlich eine Insolvenzforderung dar.

Ergänzend führte der BGH nunmehr aus, dass die teilweise Erfüllung einer Insolvenzforderung die Rechtsnatur des erfüllten Teils der Forderung unberührt lasse sowie sich auch nicht auf den nicht erfüllten Teil der Forderung auswirke. Die allein auf die teilweise Erfüllung gestützte Erwartung des Gläubigers, der Insolvenzverwalter werde auch die restliche Insolvenzforderung vollständig befriedigen, führe auch nicht unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben (§ 242 BGB) zu einer Aufwertung der Insolvenzforderung zu einer Masseverbindlichkeit. Die Einordnung einer Forderung als Insolvenzforderung oder Masseverbindlichkeit wirke sich nämlich unmittelbar auf die Quote der übrigen Insolvenzgläubiger aus, so dass keinesfalls der das Insolvenzrecht beherrschende Gläubigergleichbehandlungsgrundsatz hinter den Individualinteressen des Gläubigers zurückzutreten könne.

Eine Insolvenzforderung könne daher nur durch rechtsgeschäftliche Vereinbarung zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Insolvenzgläubiger zur Masseverbindlichkeit aufgewertet werden.

IV. Praxishinweis
Zutreffend hebt der BGH in dieser Entscheidung den im Insolvenzrecht vorherrschenden Gleichbehandlungsgrundsatz aller Gläubiger hervor. Es kann zum Schutz der Gläubigergemeinschaft und der Rechtssicherheit nicht von der Erwartungshaltung eines einzelnen Gläubigers abhängen, ob seine Forderung als Insolvenzforderung oder Masseverbindlichkeit qualifiziert wird.

Rechtsanwältin Sandra Dambacher