Im Dreimonatszeitraum entstandene Aufrechnungslagen führen nicht automatisch zu Inkongruenz

20. Februar 2023 Newsletter Insolvenzrecht

Eine Aufrechnung kann nach §§ 96 I Nr. 3, 130, 131 InsO unwirksam sein, wenn die Aufrechnungsmöglichkeit erst in den letzten drei Monaten vor dem Insolvenzantrag entstanden ist. Eine Einordnung der Aufrechnungslage als inkongruent entstanden, führt zur erheblichen Verschlechterung der Situation des aufrechnenden Gläubigers. Alleine der Entstehungszeitpunkt der Aufrechnungslage in der Krise genügt dafür nach der aktuellen BGH-Rechtsprechung nicht.

Karsten Kiesel
Karsten Kiesel

Rechtsanwalt

Entstehung der Aufrechnungsbefugnis in der Krise führt nicht zur Inkongruenz

InsO § 96 I Nr. 3, 131 I Nr. 1
BGH, Urteil vom 8.12.2022 - lX ZR 175/21 (OLG Düsseldorf)

I. Leitsatz des Verfassers
Die Herstellung einer Aufrechnungslage ist nicht allein deshalb inkongruent, weil die Aufrechnungsbefugnis in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des lnsolvenzverfahrens begründet worden ist.

II. Sachverhalt
Der Kläger ist (Sonder-)Insolvenzverwalter der P. GmbH, die mit dem Beklagten einen Unternehmenskaufvertrag abgeschlossen hatte. Teil dieses Vertrages war die am 23.2.2016 erfolgte Auslieferung von nicht mitverkauften Fertigwaren für eine „Handling Fee“, deren Zahlung der Kläger mit der Klage verlangt.

Der Beklagte hatte die Aufrechnung mit einer die „Handling Fee“ übersteigenden Teilkaufpreisforderung erklärt. Zuvor war die Fälligkeit der Kaufpreisforderung, die ursprünglich bereits vor dem 23.2.2016 hätte gezahlt werden sollen, einvernehmlich durch eine Vereinbarung über eine Zahlung in zwei Raten hinausgeschoben worden. Vor Zahlung der zweiten Rate stellte die P. GmbH Insolvenzantrag. Der Unternehmenskaufvertrag war innerhalb des letzten Monats vor dem Insolvenzantrag geschlossen worden.

Das Berufungsgericht hatte die klageabweisende Entscheidung des Landgerichts aufgehoben, da es die Aufrechnung für unwirksam hielt. Die zugelassene Revision führte zur Zurückverweisung an das Berufungsgericht durch den Bundesgerichtshof.

III. Rechtliche Wertung
Der BGH sieht die Aufrechnung des Beklagten mangels Inkongruenz nicht als unzulässig gem. §§ 96 I Nr. 3, 131 I Nr. 1 InsO an.

Keine Inkongruenz bei einheitlichem Vertragsverhältnis ohne Aufrechnungsausschluss

Die Frage der Kongruenz oder Inkongruenz der Deckung richte sich danach, ob der Aufrechnende einen Anspruch auf Abschluss der Vereinbarung habe, welche die Aufrechnungslage entstehen lässt. Die Herstellung einer Aufrechnungslage sei inkongruent, soweit die Aufrechnungsbefugnis sich nicht aus dem zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger zuerst entstandenen Rechtsverhältnis ergebe. Eine die Aufrechnungsbefugnis begründende Verknüpfung von Haupt- und Gegenforderung sei regelmäßig anzunehmen, wenn beide aus einem einheitlichen Vertragsverhältnis stammten. Wenn die Erfüllung durch Aufrechnung nicht ausgeschlossen werde, bestehe die zur Annahme der Kongruenz erforderliche Aufrechnungsbefugnis. Haupt- und Gegenforderung stammten hier aus einem einheitlichen Vertragsverhältnis und die Aufrechnungsbefugnis des Beklagten sei nicht beschränkt oder ausgeschlossen worden.

Keine Inkongruenz aufgrund in kritischer Zeit entstandenen Aufrechnungsbefugnis

Die Herstellung einer Aufrechnungslage sei auch nicht alleine deshalb inkongruent, weil die Aufrechnungsbefugnis erst in den letzten drei Monaten vor dem Insolvenzantrag entstanden sei. Die Befugnis des Gläubigers, sich in der kritischen Zeit durch Aufrechnungen zu befriedigen, trete abweichend von der Situation bei der Einzelzwangsvollstreckung nicht hinter den Schutz der Gläubigergesamtheit zurück. Die Aufrechnung unterliege mit den §§ 94 ff. InsO eigenständigen insolvenzrechtlichen Regelungen und eine zur Zeit der Eröffnung bestehende Aufrechnungslage werde grundsätzlich nicht berührt. Die Vorwirkung der Gläubigergleichbehandlung sei anders als bei der Einzelzwangsvollstreckung, die auf hoheitlichen Zwangsmitteln beruhe, nicht gerechtfertigt.

Weiter sei auch die Begründung der Aufrechnungsbefugnis durch Unternehmenskaufvertrag nicht selbständig anfechtbar, wie dies bei einer Aufrechnungs- oder Kongruenzvereinbarung möglich sei. Es werde weder eine von § 387 BGB abweichende Aufrechenbarkeit noch eine zuvor nicht bestehende Kongruenz hergestellt. Die Aufrechnungsbefugnis sei keine anfechtbare Rechtshandlung, sondern lediglich ein Wertungskriterium für die Frage, ob ein Anspruch auf Herstellung der Aufrechnungslage bestehe.

IV. Praxishinweis
Der Entscheidung ist zuzustimmen. Letztendlich wird das Vertrauen der Vertragsparteien darin geschützt, sich grundsätzlich wegen der gegenseitigen Forderungen aus einem einheitlichen Vertrag durch Aufrechnung befriedigen zu können.

Rechtsanwalt Karsten Kiesel