EuGH urteilt zur Vereinbarkeit einer als Alternative zur Insolvenz eingeleiteten Abwicklungsmaßnahme mit dem Schutz des Eigentumsrechts

30. Mai 2022 Newsletter Insolvenzrecht

Zur Wahrung der Stabilität des Bankensystems traf die portugiesische Zentralbank eine Entscheidung zur Abwicklung eines wichtigen Kreditinstituts des Landes. Ohne diese Maßnahme wäre es zur Aussetzung der Zahlungen und Liquidation der betroffenen Bank gekommen. Die portugiesische Regelung, auf welche die Abwicklung gestützt wurde, enthält keine ausdrückliche Bestimmung zum „Kriterium des Gläubigerinteresses“. Nach dem EuGH-Urteil steht das von der Charta der Grundrechte geschützte Eigentumsrecht der Anteilseigner und Gläubiger einer solchen Regelung dennoch nicht entgegen. 

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Ronan Dugué
Ronan Dugué

Avocat (Rechtsanwalt, zugelassen in Frankreich)

Rechtsanwalt

EuGH: Vereinbarkeit einer als Alternative zur Insolvenz eingeleiteten Abwicklungsmaßnahme mit dem Schutz des Eigentumsrechts

Art. 17 Abs. 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union
EuGH, Urteil vom 05.05.2022 - C-83/20 (Supremo Tribunal Administrativo, Portugal)

I. Leitsatz des Verfassers
Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der das Eigentumsrecht schützt, steht einer Abwicklungsmaßnahme bzgl. eines Kreditinstitutes nicht entgegen, die als Alternative zu einer Regelinsolvenz getroffen wurde und Eingriffe in die Rechte von Anteilseignern und Gläubigern vorsieht.

II. Sachverhalt
Die Kläger waren Anteilseigner und Inhaber nachrangiger Anleihen der portugiesischen Bank Banco Espírito Santo (im Folgenden: „BES“). Aufgrund der drohenden Aussetzung der Zahlungen der BES und des damit verbundenen systemischen Risikos traf die portugiesische Zentralbank Banco de Portugal im August 2014 eine Entscheidung zur Abwicklung dieser Bank. Diese Maßnahme stellte eine Alternativlösung zur Eröffnung eines Regelinsolvenzverfahrens dar und sah u.a. die Übertragung von Vermögenswerten auf eine eigens gegründete Bank vor. Vor den portugiesischen Gerichten fochten die Kläger die Entscheidung der Zentralbank an. Der Rechtsstreit ging bis zum obersten Verwaltungsgericht Portugals, das das Verfahren aussetzte und den EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorlegte.

Beide Fragen betrafen die Vereinbarkeit einer portugiesischen Verordnung, auf welcher die Entscheidung zur Abwicklung der BES fußten, mit EU-Rechtsnormen. Mit der ersten Frage hatte der EuGH zu prüfen, ob sich Artikel 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (die „Charta“) und die Richtlinie 2014/59/EU bzgl. der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten nationalen Rechtsvorschriften wie die streitgegenständliche Verordnung entgegenstehen. Als Besonderheit setzte diese Verordnung die Richtlinie während ihres Umsetzungszeitraums nur teilweise um. Die zweite Frage betraf insbesondere die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist. Hintergrund der Fragen war die Angemessenheit der Behandlung der Kläger im Rahmen der portugiesischen Abwicklungsmaßnahme.

III. Rechtliche Wertung
Bei der Prüfung der ersten Frage stellte der EuGH zunächst fest, dass die Richtlinie 2014/59/EU auf den Rechtsstreit nicht anwendbar war, da eine Richtlinie erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist in der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung entfaltet.

In Bezug auf die Charta hielt der EuGH fest, dass sie nach ihrem Art. 51 Abs. 1 für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts gilt und nahm Bezug auf Angaben der portugiesischen Regierung, nach welcher die portugiesische Verordnung, auf der die Abwicklungsmaßnahme beruhte, mittelbar auf Art. 3 Abs. 5 der VO (EU) Nr. 407/2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus gestützt wurde, einer Verordnung, die ihrerseits auf den Vertrag über die Arbeitsweise der EU beruht. Zudem diente die portugiesische Verordnung der teilweisen Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU. Somit war die Vorgabe einer Durchführung des EU-Rechts erfüllt und die Charta anwendbar.

Mit Bezug auf die Rechtsprechung des Europäisches Gerichtshofs für Menschenrechte erinnerte der EuGH, dass der von den Klägern geltend gemachte Art. 17 Abs. 1 der Charta zum Eigentumsrecht drei gesonderte Normen enthält:

  1. Der Grundsatz der Achtung des Eigentums (Satz 1);
  2. Die Möglichkeit eines Entzugs des Eigentums unter Einhaltung bestimmter Voraussetzungen (Satz 2);
  3. Die Befugnis der Mitgliedsstaaten, die Nutzung des Eigentums zu regeln, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist (Satz 3).

Der EuGH entschied, dass die auf Grundlage der portugiesischen Verordnung getroffenen Abwicklungsmaßnahmen keinen Entzug des Eigentums im Sinne des Art. 17 Abs. 1 S. 2 der Charta darstellt. Insbesondere käme eine solche Maßnahme nur bei erwiesenem oder absehbarem Zahlungsausfall eines Kreditinstituts in Frage. Zudem sei zur Wahrung der Rechte der Anteilseigner durch das portugiesische Recht gesichert, dass - nach Erstattung durch den Sicherungsfonds - der ggf. verbleibende Betrag aus dem Veräußerungserlös dem Kreditinstitut bzw. der Insolvenzmasse zurückerstattet wird. Schließlich sei es ohne Erlass dieser Maßnahme unweigerlich zur insolvenzbedingten Liquidation der BES gekommen.

Der EuGH räumte dennoch ein, dass die Abwicklungsentscheidung gemäß der portugiesischen Verordnung eine Regelung der Nutzung des Eigentums im Sinne des Art. 17 Abs. 1 S. 3 der Charta darstelle, ohne jedoch gegen diese Bestimmung zu verstoßen. Insbesondere führe die Abwicklungsmaßnahme nicht zu einer Entziehung des Eigentums, sondern lediglich zu einer Regelung seiner Nutzung. Des Weiteren diene sie der Stabilität des Bankensystems, eine durch die EU anerkannte und dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung. Im vorliegenden wirtschaftlichen Kontext haben die Mitgliedsstaaten ein weites Ermessen.

Der Gerichtshof berücksichtigte zudem, dass Gläubiger, deren Forderungen nicht übertragen wurden, einen Betrag erhalten werden, der nicht niedriger ist als der Betrag, den sie im Falle eines normalen Insolvenzverfahrens erhalten hätten.

Insbesondere die Anteilseigner beriefen sich auf den Grundsatz no creditor worse off. Diesem Grundsatz, der dem Gläubigerschutz dient, wird Genüge getan, wenn kein Gläubiger durch eine gegenüber der ordentlichen Insolvenz mit Liquidation alternative Maßnahme schlechter gestellt würde als bei Anwendung der Rangfolge im Fall einer solchen Liquidation.

Die Richtlinie 2014/59 enthält Vorgaben, nach welchen die Mitgliedstaaten im Falle einer partiellen Übertragung der Rechte, Vermögenswerte und Verbindlichkeiten des Finanzinstituts sicherstellen müssen, dass Anteilseigner und Gläubiger nicht schlechter behandelt werden, als sie im Falle einer Abwicklung des Instituts im Rahmen eines regulären Insolvenzverfahrens.

Das anzuwendende portugiesische Recht verfolgt ebenfalls das Ziel, bei der Anwendung von Abwicklungsmaßnahmen Verluste von Gläubigern des Kreditinstituts zu vermeiden, die höher ausfallen würden als bei einer Liquidation des Instituts. Für Anteilseigner war diese Vorgabe nicht ausdrücklich vorgesehen. Nach dem EuGH war aber davon auszugehen, dass die Verluste den gleichen Umfang haben ungeachtet der Frage, ob eine Abwicklungsmaßnahme oder ein Insolvenzverfahren eröffnet wird.

Die zweite Vorlagefrage, ob die teilweise Umsetzung der Richtlinie 2014/59 vor Ablauf der Umsetzungsfrist die Verwirklichung des vorgeschriebenen Ergebnisses im Sinne seiner Rechtsprechung (EuGH, Urt. v. 18.12.1997 - C‑129/96, Inter-Environnement Wallonie) ernstlich gefährden kann, verneinte der EuGH. Eine Maßnahme, die eine Richtlinie im Laufe des Umsetzungszeitraums teilweise aber ordnungsgemäß umsetzt, führe zwangsläufig zu einer Angleichung des nationales Rechts an die Richtlinie.

IV. Praxishinweis
Der Grundsatz no creditor worse off erinnert an § 245 Abs. 1 InsO nach welchem im Rahmen der Annahme eines Insolvenzplans die Zustimmung einer Abstimmungsgruppe trotz nicht erreichten Mehrheiten als erteilt gilt (Obstruktionsverbot) u.a., wenn die Angehörigen einer Gruppe nicht schlechter gestellt werden, als sie ohne Plan stünden (Nr. 1).

Auch die Restrukturierungsrichtlinie (EU) 2019/1023 sieht eine ähnliche Regelung bei der Bestätigung von Restrukturierungsplänen in Form des Kriteriums des Gläubigerinteresses oder best interest of creditors test vor, das im Art. 2 Abs. 1 Nr. 6 dieser Richtlinie definiert wird. Umgesetzt im deutschen Recht wurde das Kriterium des Gläubigerinteresses durch § 26 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG, wonach die Zustimmung einer Gruppe, in welcher die erforderliche Mehrheit nicht erreicht wurde, als erteilt gilt, wenn die Mitglieder dieser Gruppe durch den Restrukturierungsplan voraussichtlich nicht schlechter gestellt werden, als sie ohne einen Plan stünden.

In allen Fällen findet eine Vergleichsrechnung zwischen den im Plan vorgesehenen Zahlungen und Werten und den voraussichtlichen erzielten Zahlungen und Werten ohne Plan statt. Handelt es sich um die Annahme eines Insolvenzplans, werden die Stellung der Angehörigen des Plans mit den voraussichtlichen Ergebnissen im Rahmen der Regelabwicklung verglichen. Dabei sind „Going Concern“-Werte anzusetzen, falls es Anhaltspunkte für eine übertragende Sanierung gibt. Andernfalls sind Liquidationswerte bei der Stilllegung des Unternehmens zu berücksichtigen.

Für den Restrukturierungsplan kommen im Unterschied zum Insolvenzplan möglicherweise nicht nur Werte aus der Regelinsolvenz für den Vergleich in Betracht, sondern auch Alternativszenarien. Kommt der Restrukturierungsplan nicht zustande, können weitere Alternativszenarien in Betracht gezogen werden, da das von der Restrukturierungsmaßnahme betroffene Unternehmen lediglich drohend zahlungsunfähig ist. Nach § 26 Abs. 1 StaRUG muss das Kriterium des Gläubigerinteresses anhand des nächstbesten Alternativszenarios bewertet werden.

Für Gläubiger ist davon auszugehen, dass Vergleichswerte aus dem Liquidationsszenario mit Stilllegung die ungünstigste Alternative ist. Es werden Alternativszenarien berücksichtigt, falls diese hinreichend wahrscheinlich sind.

Avocat und Rechtsanwalt Ronan Dugué