Beginn der Rahmenfrist (§143 SGB II) – Freistellungszeiten mit ALG-Bezug zählen nicht

17. April 2023 Newsletter Insolvenzrecht

Maßgeblich für die Erfüllung der Anwartschaftszeiten ist nicht das Bestehen eines versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses, sondern der Bestand eines Beschäftigungsverhältnisses. Zeiten der Freistellung bleiben unberücksichtigt – auch bei Erstattung des bezogenen Arbeitslosengeldes nach Überwindung der Masseunzulänglichkeit.

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Joachim Zobel
Joachim Zobel

Rechtsanwalt

Fachanwalt für Arbeitsrecht

LSG Bayern: Beginn der Rahmenfrist(§ 143 SGB III) bei Gleichwohlgewährung

LSG Bayern, Urteil vom 08.03.2023 – L 10 AL 120/21

I. Leitsatz des Verfassers
Der Beginn der Rahmenfrist nach § 143 Abs. 1 SGB III wird, soweit bereits Arbeitslosengeld im Wege der Gleichwohlgewährung bewilligt worden ist, durch die persönliche Arbeitslosmeldung festgelegt, auch wenn das versicherungsrechtliche Beschäftigungsverhältnis über den Eintritt der leistungsrechtlichen Arbeitslosigkeit hinaus fortbesteht.

II. Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Zahlung von Arbeitslosengeld (ALG). Die 1956 geborene Klägerin war vom 1.9.2012 bis 31.10.2015 bei der S AG (S) als Assistentin des Vorstandes beschäftigt und bezog vom 1.11.2015 bis zum 31.7.2017 ALG von der Beklagten.

Ab 1.8.2017 nahm sie wiederum eine Beschäftigung bei S auf. Nachdem über das Vermögen der S am 1.6.2018 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, stellte der Insolvenzverwalter die Klägerin ab 1.6.2018 unter Erteilung des restlichen Erholungsurlaubes von der Arbeitsverpflichtung unwiderruflich frei. Mit Schreiben vom 12.6.2018 kündigte er das Arbeitsverhältnis zwischen S und der Klägerin ordentlich betriebsbedingt zum 30.9.2018. Die Klägerin erhielt für die Monate März bis Mai Insolvenzgeld. Lohnzahlungen erfolgten aufgrund der angezeigten Masseunzulänglichkeit durch den Insolvenzverwalter nicht mehr.

Mit Bescheid vom 14.6.2018 bewilligte die Beklagte der Klägerin ALG (in Form der Gleichwohlgewährung) ab 1.6.2018 bis 30.8.2018 für 90 Tage. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein; sie befinde sich noch bis zum 30.9.2018 in einem Beschäftigungsverhältnis, erfülle damit die versicherungspflichtigen Beschäftigungszeiten von mindestens zwölf Monaten und habe Anspruch auf ALG über den verbliebenen Rest der 2015 bewilligten Anspruchsdauer hinaus. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 9.7.2018 als unbegründet zurück. Die Klägerin habe am 1.11.2015 einen Anspruch auf ALG für 720 Tage erworben, der sich aufgrund vorangegangener Zahlung (1.11.2015 bis 31.7.2017) um 630 Tage gemindert habe, und danach keine neue Anwartschaftszeit erfüllt. Innerhalb der Rahmenfrist vom 1.6.2016 bis 31.5.2018 habe sie nur 304 Tage an versicherungspflichtigen Zeiten zurückgelegt. Nach dem Tag der Anspruchsentstehung am 1.6.2018 liegende Zeiten der Freistellung könnten nicht zur Erfüllung der Anwartschaftszeit herangezogen werden, denn danach befinde sich die Klägerin nur im Arbeits-, nicht aber im Beschäftigungsverhältnis.

Die am 9.8.2018 eingelegte Klage wurde durch das SG Bayreuth abgewiesen. Hiergegen hat die Klägerin Berufung beim Bayerischen LSG eingelegt.

III. Rechtliche Wertung
Das LSG meint, die Berufung sei unbegründet und der Bescheid der Beklagten vom 14.6.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9.7.2018 sei rechtmäßig. Der Klägerin stehe ein Anspruch auf ALG nicht zu.

Ein Anspruch auf ALG setze nach § 137 Abs. 1 SGB III Arbeitslosigkeit (Nr. 1), eine Arbeitslosmeldung (Nr. 2) und die Erfüllung der Anwartschaftszeit (Nr. 3) voraus. Die Klägerin habe zum 1.6.2018 kein neues Stammrecht auf ALG erworben. Gemäß § 142 Abs. 1 Satz 1 SGB III habe die Anwartschaftszeit erfüllt, wer in der Rahmenfrist (§ 143 SGB III) mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis stand. § 143 Abs. 1 SGB III zufolge betrage die Rahmenfrist zwei Jahre und beginne mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf ALG.

Die Klägerin habe in der Rahmenfrist nicht mindestens zwölf Monate zu 30 Tagen (360 Tage, § 339 Satz 2 SGB III) in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden.

Im vorliegenden Fall beginne die Rahmenfrist für den Anspruch auf ALG am 31.5.2018. Sie reiche zeitlich nicht über den 31.5.2018 hinaus, denn die (weiteren) Voraussetzungen des Anspruchs auf ALG bei Arbeitslosigkeit hätten am 1.6.2018 vorgelegen. Die Klägerin sei zu diesem Zeitpunkt wegen der unwiderruflichen Freistellung (leistungsrechtlich) arbeitslos (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 138 Abs. 1 SGB III) gewesen, habe sich bei der Agentur für Arbeit persönlich arbeitslos gemeldet (§ 137 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 141 SGB III) und ALG beantragt. Die Rahmenfrist ende daher am 1.6.2016. In dieser Zeit habe die Klägerin keine 360 Tage in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden.

In der Rahmenfrist habe die Klägerin auch unter Berücksichtigung der Zeit des Bezuges von Insolvenzgeld lediglich vom 1.8.2017 bis 31.5.2018 und damit 304 Tage in einem Versicherungspflichtverhältnis als Beschäftigte gestanden. Ihr stand lediglich der noch nicht erloschene Restanspruch auf ALG für 90 Kalendertage zu. Die Klägerin habe zum 27.7.2018, 360 Tage nach Aufnahme der Beschäftigung bei S, kein neues Stammrecht auf ALG erworben. Die Klägerin stand zwar in der Zeit ab 1.6.2018 weiterhin in einem Versicherungspflichtverhältnis zur Beklagten, habe aber die Anwartschaftszeit dennoch nicht erfüllt, weil dieses nicht in die maßgebliche Rahmenfrist gefallen sei.

IV. Praxishinweis
Die Freistellung von Arbeitnehmer:innen ist ein probates Mittel zur Masseschonung. Jedenfalls die unwiderrufliche Freistellung ermöglicht den Arbeitnehmer:innen den Bezug von Arbeitslosengeld im Rahmen der Gleichwohlgewährung.

Obwohl die Freistellung an sich nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegt, stellt die unwiderrufliche Freistellung sämtlicher Arbeitnehmer:innen eines Betriebs eine unumkehrbare Maßnahme zur Auflösung der betrieblichen Organisation dar und ist damit der Beginn einer mitbestimmungspflichtigen Betriebsänderung iSd. § 111 BetrVG. Anders als im Fall der widerruflichen Freistellung (BAG Urt. v. 30.5.2006 - 1 AZR 25/05) oder einer befristeten unwiderruflichen Freistellung ist der Arbeitgeber nicht mehr in der Lage, einseitig den Betrieb fortzuführen, er benötigt dafür das Einverständnis der Arbeitnehmer:innen. Das BAG legt dabei jede nicht ausdrücklich widerruflich ausgesprochene Freistellungserklärung, die eine Urlaubsabgeltung vorsieht, als unwiderrufliche Freistellung aus (BAG Urt. v. 14.3.2006 – 9 AZR 11/05).

Bei bereits begonnenen und kurz vor dem Abschluss stehenden Interessenausgleichsverhandlungen besteht die Möglichkeit, durch einen „BV Freistellung“, die ihrerseits die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats wahrnimmt, die unwiderruflichen Freistellungen auszusprechen, ohne damit Nachteilausgleichsansprüche der Arbeitnehmer:innen gem. § 113 BetrVG auszulösen.

Rechtsanwalt Joachim Zobel, Fachanwalt für Arbeitsrecht