0BGH: Musterfeststellungsklage im Insolvenzrecht
InsO §§ 80 Abs. 1, 85, 94, 96 Abs. 1 Nr. 3, ZPO § 606 Abs. 1, BGB § 305c Abs. 2, 307 Abs. 1
BGH, Urteil vom 27.07.2023 – IX ZR 267/20 (OLG München)
I. Leitsätze des Gerichts
1. Wird über das Vermögen des von den Feststellungszielen betroffenen Unternehmens das Insolvenzverfahren eröffnet, kann eine Musterfeststellungsklage gegen den Insolvenzverwalter erhoben werden, auch wenn dieser das Unternehmen nicht fortführt.
2. Insolvenzrechtliche Bestimmungen stehen einer Musterfeststellungsklage jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Feststellungsziele sich ausschließlich auf Aktivprozesse der Masse beziehen.
3. Die Berücksichtigung eines Neukundenbonus in der Jahresverbrauchsabrechnung eines Energieversorgungsvertrags stellt keine insolvenzrechtlich unzulässige Aufrechnung oder Verrechnung dar, wenn der Neukundenbonus als vom Jahresumsatz abhängiger Nachlass (Rabatt) ausgestaltet ist.
4. Beschränkt sich eine Bestimmung in einem Energielieferungsvertrag über die Berechnung des Jahresverbrauchspreises ausschließlich auf die Formulierung "Grundpreis: […] EUR/Monat (inkl. 19% MwSt) Arbeitspreis: […] EUR/Monat (inkl. 19% MwSt) Neukundenbonus: [x] % (Jahresumsatz)", kann diese Klausel bei der Verwendung gegenüber Verbrauchern dahin auszulegen sein, dass es sich bei dem Neukundenbonus um einen einmaligen, nicht an eine Mindestlaufzeit geknüpften Nachlass (Rabatt) auf den Jahresverbrauchspreis handelt.
II. Sachverhalt
Die Klägerin, eine qualifizierte Einrichtung nach § 4 UKlaG, hat gegen einen Insolvenzverwalter eine Musterfeststellungsklage erhoben. Die Schuldnerin warb für Energielieferungsverträge über Gas und Strom u.a. mit einem vom Jahresumsatz abhängigen Neukundenbonus. Mit der Musterfeststellungsklage wird die Feststellung begehrt, dass einer Berücksichtigung des Neukundenbonus in den Abrechnungen eines Energielieferungsvertrages zwischen einem Verbraucher und der Schuldnerin nicht die Tatsache entgegenstehe, dass die Belieferung durch den Schuldner und/oder den vorläufigen Insolvenzverwalter vor Ablauf der Mindestvertragslaufzeit endete. Zudem wird beantragt festzustellen, dass die Berücksichtigung des prozentual vom Umsatz gewährten Neukundenbonus in der Weise zu erfolgen hat, dass die Entgeltforderung in der Endabrechnung, um den Bonus zu kürzen ist und dies nicht den Aufrechnungsregeln nach § 94 InsO, insbesondere nicht dem Verbot nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unterfällt.
Das OLG hat den Klageanträgen stattgegeben. Die zugelassene Revision des Beklagten wird durch den BGH als unbegründet zurückgewiesen.
III. Rechtliche Wertung
Die Musterfeststellungsklage sei zulässig (Urt. Rn. 8). Es könne offenbleiben, ob der Insolvenzverwalter Unternehmer iSd § 606 Abs. 1 S. 2 ZPO sei. Aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin folge aus § 80 Abs. 1 InsO, dass die streitgegenständliche Musterfeststellungsklage, die ausschließlich einen bereits vom schuldnerischen Unternehmen begründeten Anspruch betreffe, gegen den Insolvenzverwalter zu erheben sei. Streitgegenstand der Feststellungsziele der Musterfeststellungsklage gem. § 606 Abs. 1 S. 1 ZPO seien in casu allein Aktivprozesse der Insolvenzmasse. Damit ständen insolvenzrechtliche Bestimmungen der Zulässigkeit der Musterfeststellungsklage nicht entgegen. Die Feststellung von Insolvenzforderungen (§§ 87, 174 InsO) sei nicht Gegenstand der Revisionsinstanz. Es liege eine Beschränkung des Streitgegenstands in zulässiger und wirksamer Weise auf die Frage vor, dass die Neukundenboni keine selbständigen, als Insolvenzforderungen anzusehenden Ansprüche begründen, sondern unselbständige Rechnungsposten seien, die lediglich zu einer Verringerung der vom Beklagten geltend gemachten Forderung gegen die Kunden führten (Urt. Rn. 12, 13).
Die besondere Zuständigkeit für gerichtliche Feststellungen gem. § 180 InsO schließe eine Musterfeststellungsklage nicht von vornherein aus. Zwar könnten die in § 178 ff. InsO geregelten besonderen Voraussetzungen und Wirkungen der Feststellung von Insolvenzforderungen und die mit der Beteiligung aller Insolvenzgläubiger an der Feststellung von Forderungen einhergehenden Besonderheiten der von § 613 ZPO vorgesehenen Bindungswirkung eines Musterfeststellungsurteils entgegenstehen (Urt. Rn. 18 m.w.N.). Es könne aber offenbleiben, ob eine Musterfeststellungsklage auch dann zulässig sei, wenn sich die Feststellungsziele auf dem Verfahren nach § 179 InsO unterliegende Insolvenzforderungen beziehen (Urt. Rn. 18, mit Darstellung des Streitstandes).
Die Musterfeststellungsklage sei nämlich nach dem Wortlaut des § 606 Abs. 1 S. 1 ZPO grundsätzlich für das Bestehen oder Nichtbestehen aller Ansprüche oder Rechtsverhältnisse zwischen Verbrauchern und Unternehmen eröffnet, soweit nicht die vom Gesetz ausgenommenen Verfahren betroffen sind. Damit erstrecke sich das Rechtsinstrument auch auf nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens auftretende insolvenzrechtliche Fragen, solange sie – wie in casu – abstrakt sind, also nicht von individuellen Verhältnissen der einzelnen Verbraucher abhängen.
Die Musterfeststellungsklage sei auch nicht deswegen unzulässig, weil das Unternehmen der Schuldnerin nicht mehr auf dem Markt tätig sei und vom beklagten Insolvenzverwalter abgewickelt werde. Eine solche Beschränkung ergebe sich nicht aus dem Wortlaut und dem Zweck des § 606 ff. ZPO.
Der Zweck der Musterfeststellungsklage werde nicht durch die Insolvenz eines Unternehmens gegenstandslos. Vielmehr führe die zu Tage tretende erhebliche Verschlechterung der Befriedigungsaussichten zur Potenzierung des „rationalen Desinteresses“ der Verbraucher (Urt. Rn. 22 unter Hinweis auf Tintelnot, EWiR 2020, 761, 762). Die Anträge seien auch bestimmt (Rn. 24). Die Musterfeststellungsklage sei zudem begründet (Rn. 26, Leitsätze 3 und 4). Die Berücksichtigung eines Neukundenbonus stelle keine insolvenzrechtlich unzulässige Aufrechnung oder Verrechnung dar, wenn der Neukundenbonus als vom Jahresumsatz unabhängiger Nachlass ausgestaltet sei (Leitsatz 3). Der Neukundenbonus sei nach der gebotenen Vertragsauslegung so zu verstehen, dass es sich um einen einmaligen, nicht an eine Mindestlaufzeit geknüpften Nachlass (Rabatt) auf den Jahresverbrauchspreis handelt (Leitsatz 4).
IV. Praxishinweis
1. Mit seinem Grundsatzurteil, das zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen ist, stellt der Bundesgerichtshof klar, dass auch Musterfeststellungsklagen gegen einen Insolvenzverwalter eines Unternehmens möglich sind, jedenfalls dann, wenn – wie in casu – der Streitgegenstand nicht die Frage der Feststellung von Insolvenzforderungen ist (Urt. Rn. 18). Wie Thole eingehend herausgearbeitet hat (NZI 2020, 411) ist für eine insolvenzrechtliche Forderungsfeststellung iSd § 179 InsO eine vorgelagerte Musterfeststellungsklage bereits das Rechtsschutzbedürfnis zu verneinen, insbesondere dann, wenn nicht nur der Verwalter, sondern auch außenstehende Insolvenzgläubiger der Feststellung zur Tabelle widersprochen haben (Thole, ebenda, 414). Zwar konnte der Bundesgerichtshof diese Frage mangels Entscheidungserheblichkeit offenlassen, seine weitergehenden Ausführungen bei Rn. 18 sind jedoch, auch wenn sie nur im Konjunktiv formuliert wurden, m.E. zutreffend. Einer Bindungswirkung gem. § 613 ZPO im Rahmen einer Musterfeststellungsklage stehen danach die Vorschriften des § 178 InsO für Forderungen der Insolvenzgläubiger gem. § 87 InsO entgegen, nachdem die in §§ 178 ff. InsO geregelten besonderen Voraussetzungen und Wirkungen der Feststellung von Insolvenzforderungen im Rahmen des Musterfeststellungsverfahrens nicht gewährleistet sind (vgl. Urt. Rn. 18, allerdings im Konjunktiv formuliert).
Diese Rechtslage steht aber einer Musterfeststellungsklage nicht entgegen, wenn sich die Feststellungsziele lediglich auf Aktivprozesse der Masse beziehen (Leitsatz 2). Dies gilt auch in einem Fall – wie in casu -, wenn das Unternehmen der Schuldnerin nicht mehr auf dem Markt tätig ist (Urt. Rn. 22). Auch für diesen Fall besteht ein „rationales Desinteresse“ der Verbraucher an der Geltendmachung von Bagatellforderungen (Urt. Rn. 22).
2. Die Musterfeststellungsklage ist nach zutreffender Auffassung des BGH auch dann zulässig, wenn man der Auffassung wäre, der Insolvenzverwalter sei nicht als Unternehmer iSd § 606 Abs. 1 S. 2 ZPO anzusehen. Im Hinblick auf die Vorschrift des § 80 InsO rückt der Insolvenzverwalter als Partei kraft Amtes in die „Fußstapfen“ des Schuldners ein (Baumert, EWiR 2019, 85, 86 m.w.N.). War – wie hier – die Schuldnerin unternehmerisch tätig, so ist daher die Unternehmereigenschaft auch nach § 606 Abs. 1 S. 1 ZPO zu bejahen (vgl. bereits mutatis mutandis Baumert, EWiR 2019, 85, 86 für die Kaufmannseigenschaft nach § 38 Abs. 1 ZPO bei Gerichtsstandvereinbarungen)
Rechtsanwalt Prof. Dr. Andreas J. Baumert, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht