Unwiderrufliche Freistellung – unumkehrbare Maßnahmen führen zu Nachteilsausgleichsansprüchen

26. Juni 2023 Newsletter Insolvenzrecht

Unwiderrufliche Freistellungen als unumkehrbare Maßnahmen dürfen zur Vermeidung von Nachteilsausgleichsansprüchen nur unter Wahrung der Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats aus § 111 BetrVG ausgesprochen werden.

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Joachim Zobel
Joachim Zobel

Rechtsanwalt

Fachanwalt für Arbeitsrecht

Konsultationsverfahren als Wirksamkeitsvoraussetzung einer Kündigung

ArbG Kempten, Urteil vom 29.11.2022 – 3 Ca 983/22

I. Leitsatz des Verfassers
Wurde vor Entlassungen kein Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt, ist eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung – unabhängig von dem Erfordernis einer ordnungsgemäßen Anzeige bei der Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 1 iVm. Abs. 3 KSchG – wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot iSv. § 134 BGB rechtsunwirksam. Die Durchführung des Konsultationsverfahrens ist ein eigenständiges Wirksamkeitserfordernis für die Kündigung.

II. Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung sowie über einen Nachteilsausgleich, der als Masseforderung geltend gemacht wurde. Der schwerbehinderte Kläger war bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Diese beschäftigte vor der Ausproduktion 217 Arbeitnehmer/Arbeitsnehmerinnen (AN). Es existiert ein Betriebsrat (BR). Mit Beschluss vom 15.3.2022 wurde die schwache vorläufige Insolvenzverwaltung über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin angeordnet.

Am 10.5.2022 trafen der Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin und der vorläufige Insolvenzverwalter die Entscheidung, den Betrieb vollständig zu schließen. Am 11.5.2022 wurden die AN der Insolvenzschuldnerin sowie der BR über die Stilllegungsabsicht informiert, wobei dem BR zwei undatierte Unterrichtungsschreiben überreicht wurden: Unterrichtung nach § 17 KSchG und Unterrichtung nach 111 BetrVG.

Daraufhin bemängelte der BR-Vorsitzende das Fehlen einer Beratung mit dem BR und teilte mit, dass dieser nicht in der Lage sei, eine abschließende Stellungnahme iSv § 17 Abs. 2 KSchG abzugeben. Mit Schreiben vom 19.5.2022 informierten die Insolvenzschuldnerin und der vorläufige Insolvenzverwalter den BR ergänzend über anzeigepflichtige Entlassungen unter Angabe der Zahl der idR beschäftigten sowie der betroffenen AN und deren Berufsgruppen. Im Übrigen wurde auf das Schreiben vom 11.5.2022 Bezug genommen.

Am 27.5.2022 fand ein Gespräch zwischen den Betriebsparteien insbesondere über den Interessenausgleich und den Sozialplan statt, jedoch ohne Erfolg. Über einen weiteren Beratungstermin konnten sich die Betriebsparteien nicht einigen. Infolgedessen wurden 140 AN am 30.5.2022 unwiderruflich und unbefristet freigestellt.

Am 1.6.2022 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin eröffnet. Der Beklagte wurde zum Insolvenzverwalter bestellt.

Mit Schreiben vom 2.6.2022 hörte der Beklagte den BR zur beabsichtigten ordentlichen betriebsbedingten Kündigung an. Mit Schreiben vom 10.6.2022 unterrichtete der Beklagte den BR erneut gem. § 17 Abs. 2 KSchG.

Mit Schreiben vom 18.7.2022 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers. Hiergegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage. Ein Sozialplan kam am 22.9.2022 durch Spruch der Einigungsstelle zustande.

III. Rechtliche Wertung
Die Klage sei lediglich in Bezug auf den Kündigungsschutzantrag begründet. Die Kündigung sei gem. § 134 BGB iVm. § 17 Abs. 2 KSchG unwirksam, da das Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 S. 2

KSchG nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sei. Die Konsultationspflicht erschöpfe sich nicht nur in einer Auskunftserteilung und Anhörung. Vielmehr gehe sie über eine bloße Anhörung deutlich hinaus, wobei der Arbeitgeber mit dem BR die Möglichkeiten beraten müsse, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen abzumildern. Das Konsultationsverfahren sollte dem BR-Einfluss auf die Willensbildung des Arbeitgebers ermöglichen.

Vorliegend habe der Beklagte dem BR keine Beratungen iSd. § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG angeboten. Während das erste Schreiben darauf hinweise, dass keine andere Entscheidung, als den Betrieb stillzulegen, möglich sei, nehme das zweite Schreiben auf das erste Unterrichtsschreiben Bezug und enthalte ebenfalls weder ein Angebot noch die Aufforderung zu Beratungen.

Die durch die Parteien geführten Verhandlungen über den Interessenausgleich und Sozialplan könnten das Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 KSchG nicht ersetzen. Zwar sei es möglich, den Interessenausgleich und das Konsultationsverfahren zu verbinden. Voraussetzung sei aber, dass der BR klar erkennen könne, dass die Handlungen des Arbeitgebers der Erfüllung der Konsultationspflicht dienen sollten. Durch die separaten Anhörungen und Mitteilungen zu Interessenausgleich und Massenentlassungen habe die Insolvenzschuldnerin und später der Beklagten gezeigt, dass die Verfahren nicht gemeinsam durchgeführt werden sollten. Selbst wenn man die Einleitung des Konsultationsverfahrens annehmen würde, wäre diese nicht ordnungsgemäß abgeschlossen, da die Insolvenzschuldnerin bereits unumkehrbare Maßnahmen durch die unwiderruflichen unbefristeten Freistellungen ergriffen und vollendete Tatsachen geschaffen habe.

Der Unterrichtungsfehler sei auch mangels abschließender Stellungnahme des BR nicht geheilt worden.

IV. Praxishinweis
Im Rahmen von Reorganisationsentscheidungen, insbesondere bei der Stilllegung mit Ausproduktion ist neben den Kündigungen von Arbeitsverhältnissen häufig vorab die Freistellung von AN aus Liquiditätsgründen erforderlich. Obwohl die Freistellung als solche nicht mitbestimmungspflichtig ist, ist sie im Kontext der Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats gem. § 111 BetrVG zu sehen. Die Durchführung einer Betriebsänderung ohne Wahrung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats löst Nachteilsausgleichsansprüche der AN gem. § 113 Abs 3 BetrVG aus.

Die unwiderrufliche Freistellung ist als unumkehrbare Maßnahme bereits der Beginn der Betriebsänderung!

Eine widerrufliche Freistellung, die umkehrbar wäre (ggf. unter Verzicht auf das Direktionsrecht), ist häufig ein untaugliches Mittel, weil eine sog. „Gleichwohlgewährung“ von Arbeitslosengeld solchenfalls nicht erfolgt.

Der Ausspruch einer befristeten unwiderruflichen Freistellung kann, wenn keine Einigung mit dem Betriebsrat möglich ist, eine denkbare Alternative darstellen, die eine Möglichkeit für den AN (Arbeitslosengeldbezug) als auch eine Notwendigkeit des Insolvenzverwalters (Masseschonung) verbindet.

Bei dem einigungsbereiten Betriebsrat und den kurz vor dem Abschluss stehenden Interessenausgleichsverhandlungen gäbe es auch die Möglichkeit, eine sog. „vorgezogene Vereinbarung“ zum Ausspruch unwiderruflicher Freistellungen abzuschließen. Die würde die Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats wahren und würde nachfolgend in den Interessenausgleich integriert.

Rechtsanwalt Joachim Zobel, Fachanwalt für Arbeitsrecht